Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
Vom Netzwerk:
über Ihr Hemd. Kommen Sie, gehen wir. Irv Schlanger hat seine Laken, Bettbezüge und Handtücher dagelassen. Die können Sie übernehmen. Wäschewechsel ist montags.«
    Das Hemd war das gleiche wie Mr. Blombacks: Auf der Vorderseite waren der Name des Camps und darunter das Symbol, das auf dem Schild an der Straße gestanden hatte: ein von Flammen umlodertes Tipi.
    Nur wenige Schritte über einen hölzernen Steg von Mr. Blombacks Büro am See entfernt stand der große, gezimmerte, an den Seiten offene Speisepavillon, wo es bereits von Jugendlichen und Betreuern wimmelte. Die Mädchen und ihre Betreuerinnen saßen an runden Tischen auf der einen Seite des Mittelgangs, die Jungen und ihre Betreuer auf der anderen. Draußen waren die milde Wärme der Sonne - die Bucky jetzt nicht mehr feindselig, sondern wohltuend erschien, ein gütiger Vater, Gott des Lichts, der Mutter Erde befruchtete -, das Glitzern des Sees und das üppig wuchernde Grün des Juli, über das er kaum mehr wusste als über die Vögel; drinnen erfüllte der Lärm von Kinderstimmen den Pavillon und erinnerte ihn daran, wie sehr er es genoss, mit Kindern zusammen zu sein, und warum er seine Arbeit liebte. In diesen anstrengenden Wochen, in denen er ständig auf eine Bedrohung geachtet hatte, gegen die er die ihm Anvertrauten nicht beschützen konnte, hatte er beinahe vergessen, wie viel Freude ihm dies bereitete. Hier waren unbeschwerte, lebendige Kinder, die nicht von einem grausamen, unsichtbaren Feind bedroht wurden, Kinder, die durch die Wachsamkeit von Erwachsenen tatsächlich vor Unfällen bewahrt werden konnten. Zum Glück musste er endlich nicht mehr hilflos zusehen, wie Tod und Schrecken um sich griffen, sondern war wieder inmitten furchtloser, kerngesunder Kinder. Dies war eine Arbeit, die er tun konnte.
    Mr. Blomback hatte ihn mit seinem Mittagessen alleingelassen und gesagt, sie würden sich nach dem Essen wieder treffen. Im Pavillon wusste noch niemand, wer er war; man kümmerte sich auch nicht um ihn. Kinder und Betreuer unterhielten sich angeregt beim Essen, Zimmergenossen redeten, lachten und schrien, an manchen Tischen wurde sogar gesungen - es war, als wären nicht bloß ein paar Stunden, sondern viele Monate vergangen, seit sie beim Frühstück zusammengewesen waren. Er sah sich nach Marcia um, die ihn ihrerseits vermutlich noch nicht erwartete. Bei ihrem Telefongespräch am Abend zuvor hatten sie angenommen, es werde so lange dauern, bis er sich eingerichtet hatte und am Badeplatz eingewiesen worden war, dass das Mittagessen bis dahin längst vorbei wäre und sie sich erst beim Abendessen würden begrüßen können.
    Als er sie entdeckte, war er so überglücklich, dass er beinahe aufgeschrien hätte. Während der letzten drei Tage auf dem Sportplatz hatte er insgeheim gedacht, er werde sie nie wiedersehen. Von dem Augenblick an, in dem er die Stelle in Camp Indian Hill angenommen hatten, war er überzeugt gewesen, dass er sich mit Kinderlähmung anstecken und alles verlieren würde. Doch da war sie nun, eine junge Frau mit auffallend dunklen Augen und schwarzem, kurzem Haar, das sie zu Beginn des Sommers hatte schneiden lassen - es gab nur wenige echte Schwarzhaarige, und Marcia war eine von ihnen. Als er sie bei der Lehrerkonferenz im vergangenen Herbst, bei der die neuen Lehrkräfte vorgestellt wurden, zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr Haar noch in herrlichen Wellen über ihre Schultern gefallen. An diesem ersten Nachmittag hatte sie ihm so gefallen, dass es eine Weile gedauert hatte, bis er sie nicht immer nur aus der Ferne bewundern musste, sondern ihr in die Augen blicken konnte. Dann hatte er gesehen, wie sie selbstbewusst an der Spitze ihrer mucksmäuschenstillen Klasse durch die Korridore zur Aula gegangen war, und sich gleich aufs Neue in sie verliebt. Dass die Kinder sie Miss Steinberg nannten, faszinierte ihn.
    Jetzt war sie braungebrannt und trug ein weißes »Camp Indian Hill«-Polohemd, das die Schönheit ihrer dunklen Erscheinung unterstrich und besonders ihre Augen betonte, die ihm nicht nur dunkler, sondern auch runder als die anderer Frauen erschienen: Sie waren wie zwei Ziele für seine Träume, konzentrische Kreise in Dunkelbraun und Schwarz. Nie war sie ihm schöner vorgekommen, auch wenn sie nicht so sehr wie eine Betreuerin wirkte als vielmehr wie eine der Betreuten, und sie schien wenig gemeinsam zu haben mit der adrett und makellos gekleideten Junglehrerin, die sich mit zweiundzwanzig bereits betrug wie

Weitere Kostenlose Bücher