Rotkäppchens Rache

Chancen standen besser als die Schnees und sie konnte sich wahrscheinlich weit genug zur Seite drehen, um nicht von dem Geschoss getötet zu werden.
    Roudette sah mehr oder weniger so aus, wie Talia sie in Erinnerung hatte. Sie war älter als sie und Schnee, vermutlich Anfang vierzig, und ihre blonden Locken hatten viel von ihrer Farbe verloren. Ihre Gesichtsfarbe war die rissigen Leders. Die Innenseite ihres berühmten Umhangs war mit schwarzem Pelz gefüttert; die Ränder säumten goldene Schriftzeichen einer Sprache, die Talia fremd war.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr kommt«, sagte Roudette. »Ich weiß, was Charlotte und ihre Schwester Euch anzutun versucht haben.«
    Schnee bewegte sich nicht. »Geht es dir gut, Charlotte?«
    »Ob es mir gut geht? Sie hat mir die Zehe abgeschnitten! Seit drei Tagen habe ich nichts mehr gegessen!«
    Das war definitiv Danielles Stiefschwester. Talia packte ihre Messer anders. Wenn sie Roudette mit dem ersten Messer töten könnte, blieb das andere für Charlotte übrig. Der Gedanke war verlockend … aber Danielles Vorhaltungen würden sie dann jahrelang verfolgen.
    Talia trat einen Schritt nach rechts, um einen besseren Winkel zu bekommen. Roudette hatte sich so postiert, dass Charlottes Körper ihr als Schild diente, sodass als beste Ziele nur die Augen und der Hals blieben.
    »Gebt mir Charlotte!«, verlangte Schnee.
    »Ihr könnt sie gerne haben.« Roudettes Mund verzog sich. »Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr sie aus meiner Obhut nehmt. Wie Ihr so lang mit dem Miststück leben konntet, ohne Hackfleisch aus ihr zu machen, werde ich nie begreifen.«
    »Manchmal frage ich mich das auch«, gab Schnee zu.
    In der Ferne heulte ein Wolf, und Charlotte wimmerte. Roudette lächelte bei dem Geräusch.
    »Die Herzogin hatte recht, was Euch betraf, Prinzessin. Sie versicherte mir, Ihr würdet Eure Stiefschwester niemals sterben lassen, trotz allem, was sie Euch angetan hat. Genau wie sie mir auch sagte, dass Ihr Hilfe mitbringen würdet.«
    »Die Herzogin hat Euch angeheuert?«, fragte Talia. Die Lady von der Roten Kappe in Zusammenarbeit mit einer Möchtegern-Elfenherrscherin?
    Roudette lachte, ein Geräusch ungekünstelter Heiterkeit. Ihr Bogen bewegte sich keinen Moment lang von Talia fort. »Die Herzogin hat nichts, was mich dazu bringen könnte, für sie zu arbeiten. Sie hat mir bloß das Werkzeug zur Verfügung gestellt, um die Sache zu Ende zu bringen.«
    Charlotte schüttelte den Kopf. Sie war noch blasser als zuvor und ihr Gesicht schweißnass. »Ich werde es nicht machen!«, wisperte sie.
    »Tapfere Worte«, sagte Roudette. »Aber du redest, als ob du eine Wahl hättest.«
    »Wieso braucht Ihr Charlotte, um mich zu töten?«, fragte Schnee.
    »Nicht Euch. Euren Gefährten.«
    »Gregory könnt Ihr nicht haben!«, sagte Schnee entschieden. »Er ist mein Lieblingseunuch!«
    Talia blickte finster drein, sagte jedoch nichts. Sie wurde immer noch nicht richtig schlau aus Roudette.
    Ein weiterer Wolf rief, dieser von der anderen Seite des Wäldchens. Roudettes Lächeln wurde breiter. »Macht Euch nicht die Mühe, Eure Tricks bei ihnen zu versuchen, Prinzessin Whiteshore. Ihr mögt vielleicht imstande sein, Nagetiere zu beeinflussen, aber meine Wölfe würden es nicht wagen, ihrer Rudelführerin ungehorsam zu sein.«
    Talia machte einen Schritt nach vorn. »Was wollt Ihr von mir?«
    »Deine Verkleidung ist fabelhaft, Talia«, sagte Roudette. »Aber du hast nichts unternommen, um deine Witterung zu verändern.«
    »Meine Witterung?« Talia warf ihr erstes Messer. Im selben Moment ließ Roudette ihren Pfeil los und sprang weg. Der Pfeil schwirrte an Talias Ohr vorbei, während Talias Messer an dem steinernen Stumpf Funken sprühte.
    »Du hättest mich umbringen können, du blöde Kuh!«, schrie Charlotte.
    Talia war schon in Deckung gehechtet, als Roudettes nächster Pfeil vorbeiflog. Schnee hatte sich hinter einen Baum geduckt, wo sie einen schnellen Zauberspruch murmelte. Sie hob die Hände an den Mund und blies.
    Steinnadeln flogen wie winzige Wurfpfeile durch die Luft; Roudette ließ den Bogen fallen und hielt den Umhang hoch. Die meisten Nadeln gruben sich in den Stoff, aber ein paar trafen ihre Hand und ihr Gesicht. Roudette fluchte und zog einen mit Eisenspitzen gespickten Streithammer aus dem Gürtel.
    Talia befand sich in der Vorwärtsbewegung, als sie hinter sich etwas krachen hörte. Sie machte aus ihrem nächsten Schritt eine Rolle und stürzte sich zur