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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Motorrad befand sich jetzt auf Höhe der Kassenhäuschen und das Rotkehlchen war noch immer ein dunkler Fleck am äußersten Rand seines Blickfeldes. Die Zeit auf dem elektrischen Stuhl, bevor der Strom …
    Harry drückte den Abzug. Einmal, zweimal, dreimal.
    Und dann ging alles wahnsinnig schnell. Das farbige Glas wurde weiß, prasselte in einem Kristallregen auf den Asphalt, und er konntegerade noch erkennen, wie ein Arm hinter dem unteren Fensterrahmen herabsackte, ehe das summende Geräusch teurer amerikanischer Autos erklang – und wieder leiser wurde.
    Er starrte auf das Häuschen. Ein paar gelbe Blätter, die der Konvoi aufgewirbelt hatte, flatterten durch die Luft und kamen auf dem grauen Gras neben der Straße zur Ruhe. Er starrte auf das Häuschen. Es war wieder still geworden, und einen Augenblick gelang es ihm, sich vorzustellen, es wäre eine ganz normale norwegische Mautstation an einem ganz normalen Herbsttag mit einer ganz normalen Essotankstelle im Hintergrund. Die kalte Morgenluft roch sogar normal – nach verrottendem Laub und Autoabgasen. Vielleicht war nichts von alledem wirklich geschehen, dachte er.
    Er starrte noch immer auf das Häuschen, als der klagende, unnachgiebige Laut einer Hupe den Tag durchschnitt.

 
     
     
     
    TEIL II
     
    GENESIS

 
    1942
     
    9 Feuerschein erleuchtete den grauen Nachthimmel und ließ ihn wie eine schmutzige Zeltplane aussehen, die nach allen Richtungen über die trostlose, nackte Landschaft um sie herum gespannt worden war. Vielleicht hatten die Russen eine Offensive gestartet, vielleicht taten sie aber auch nur so, das wusste man immer erst hinterher. Gudbrand lag am Rand des Schützengrabens, er hatte die Beine unter sich gezogen, hielt das Gewehr mit beiden Händen und lauschte dem fernen, dumpfen Dröhnen, während er auf die herabsinkenden Lichtflecken starrte. Er wusste, dass er nicht ins Feuer schauen sollte, denn dann wurde man nachtblind und konnte die russischen Heckenschützen nicht sehen, die dort vorne im Niemandsland durch den Schnee robbten. Doch er konnte sie ohnehin nicht sehen, hatte nie auch nur einen einzigen gesehen, sondern bloß wie die anderen auf Befehl geschossen. Wie jetzt.
    »Da liegt er!«
    Das war Daniel Gudeson, der Einzige von ihnen, der in einer Stadt aufgewachsen war. Die anderen kamen aus ländlichen Gegenden, deren Ortsbezeichnungen auf -dal endeten. Es waren breite Täler und tiefe, schattige, menschenleere, so wie Gudbrands Heimat. Anders als bei Daniel. Daniel Gudeson mit der hohen, blanken Stirn, den funkelnden blauen Augen und dem strahlenden Lächeln. Er sah aus, wie aus einem Werbeplakat ausgeschnitten. Er entstammte einem Ort mit Aussicht.
    »Etwa zwei Meter, rechts vom Gebüsch«, sagte Daniel.
    Gebüsch? Es gab hier in der zerbombten Landschaft doch keine Büsche. Oder vielleicht doch, denn die anderen schossen. Jede fünfte Kugel flog wie eine Feuerfliege in einer Parabel. Leuchtspurmunition. Die Kugel schoss ins Dunkel, schien dann aber plötzlich müde zu werden, denn sie wurde langsamer und landete einfach irgendwo dort draußen. So sah es jedenfalls aus. Gudbrand dachte, dass eine derart langsame Kugel unmöglich jemanden töten konnte.
    »Er kommt davon!«, rief eine verbitterte, hasserfüllte Stimme. Das war Sindre Fauke. Sein Gesicht war über der Tarnuniform kaumzu erkennen und seine kleinen, eng zusammenstehenden Augen starrten ins Dunkel. Er stammte von einem abgelegenen Hof ganz oben im Gudbrandsdal. So blass wie er war, lag der Hof vermutlich in einem engen Seitental, in dem die Sonne nie den Boden erreichte. Gudbrand wusste nicht, warum sich Sindre als Frontkämpfer gemeldet hatte. Doch er hatte gehört, dass seine Eltern und seine beiden Brüder Anhänger der Nationalen Sammlung waren und dass sie dort zu Hause eine Binde um den Arm trugen und alle im Dorf denunzierten, die sie für Juden hielten. Daniel meinte, sie würden alle irgendwann selbst die Peitsche zu spüren bekommen, diese Denunzianten und Kriegsgewinnler, die nur auf ihren Vorteil bedacht waren.
    »Nicht doch«, sagte Daniel leise, er hatte seine Wange an den Gewehrkolben gepresst. »Keiner dieser Scheißbolschewiken kommt davon!«
    »Er hat erkannt, dass wir ihn gesehen haben«, knurrte Sindre. »Er zieht sich in die Senke zurück.«
    »Nicht doch«, widersprach Daniel und zielte.
    Gudbrand starrte in die grauweiße Finsternis. Weißer Schnee, weiße Tarnuniformen, weißer Feuerschein. Der Himmel wurde wieder erleuchtet. Schatten

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