Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
verrückt geworden war und eines Nachts in seine Schuhe gepinkelt hatte, ehe er Wache hatte. Man hatte ihm alle Zehen amputieren müssen. Aber der war jetzt in Norwegen, vielleicht war er doch nicht ganz so verrückt gewesen. Er hatte jedenfalls genau so einen stechenden Blick gehabt.
    »Vielleicht macht er einen Spaziergang im Niemandsland«, spottete Gudbrand.
    »Ich weiß, was auf der anderen Seite des Stacheldrahtes ist, und frage mich, verdammt noch mal, was er da will.«
    »Vielleicht hat ihn die Granate am Kopf getroffen«, meinte Hallgrün Dale. »Vielleicht ist er durchgedreht.«
    Hallgrim Dale war der Jüngste von ihnen, er war gerade erst achtzehn Jahre alt. Keiner wusste, warum er sich gemeldet hatte. Abenteuerlust, glaubte Gudbrand. Dale behauptete, er bewundere Hitler, aber er hatte keine Ahnung von Politik. Daniel meinte zu wissen, Dale sei einem geschwängerten Mädchen davongelaufen.
    »Wenn der Russe noch lebt, wird Gudeson erschossen, ehe er fünfzig Meter weit gekommen ist«, verkündete Edvard Mosken.
    »Daniel hat ihn getroffen«, flüsterte Gudbrand.
    »Dann wird er von einem der anderen erschossen«, beharrte Edvard, schob seine Hände in die Tarnjacke und fischte eine dünne Zigarette aus der Brusttasche. »Es wimmelt heute Nacht von denen da draußen.«
    Er hielt das Streichholz versteckt in der Hand, als er es gegen die Schachtel schlug. Das Schwefelköpfchen entzündete sich beim zweiten Versuch, und es gelang Edvard, die Zigarette anzuzünden. Wortlos sog er einmal tief den Rauch ein und reichte sie weiter. Alle nahmen schnell einen Zug und gaben sie dann an den Nächsten weiter. Niemand sagte ein Wort, sie schienen in ihre Gedanken versunken zu sein; doch Gudbrand wusste, dass sie lauschten – so wie er.
    Es vergingen zehn Minuten, ohne dass sie etwas hörten.
    »Wahrscheinlich bombardieren sie den Ladogasee von den Flugzeugen aus«, sagte Hallgrim Dale.
    Sie alle hatten die Gerüchte gehört, dass die Russen über den zugefrorenen Ladogasee aus Leningrad flüchteten. Doch dass das Eis so fest war, bedeutete auch, dass General Schukow Nachschub in die belagerte Stadt bekommen konnte.
    »Die werden da drinnen sicher bald vor Hunger ohnmächtig«, meinte Dale und nickte in Richtung Osten.
    Doch das hatte Gudbrand schon gehört, als er vor fast einem Jahr hierher geschickt worden war; trotzdem beschossen sie einen, kaum dass man den Kopf über den Rand des Schützengrabens hob. Im letzten Winter waren jeden Tag russische Deserteure mit erhobenen Händen zu ihnen herübergekommen, die genug hatten und für ein bisschen Wärme und etwas Essen die Seite wechselten. Doch jetzt kamen immer weniger Fahnenflüchtige, und die zwei armen Kerle mit den eingefallenen Wangen, die letzte Woche übergelaufen waren, hatten sie mit ungläubigen Augen angesehen, als sie erkannten, dass ihre Gegner ebenso mager waren wie sie selbst.
    »Zwanzig Minuten. Er kommt nicht mehr«, stellte Sindre fest. »Er ist tot. Wie ein saurer Hering.«
    »Halt dein Maul!« Gudbrand trat einen Schritt auf Sindre zu, der sogleich die Schultern straffte. Doch obgleich Sindre mindestens einen Kopf größer war, hatte er ganz offensichtlich wenig Lust auf eine Prügelei. Er dachte wohl an den Russen, den Gudbrand vor wenigen Wochen getötet hatte. Wer hätte gedacht, dass der freundliche, vorsichtige Gudbrand einen solchen Mut, solche Wildheit in sich hatte? Der Russe war zwischen zwei Lauschposten unbemerkt bis in ihren Schützengraben vorgedrungen und hatte in den beiden ersten Bunkern die Menschen im Schlaf massakriert. In dem einen waren Holländer gewesen und in dem anderen Australier. Dann war er in ihren Bunker gekommen. Es waren die Läuse, denen sie ihr Leben verdankten.
    Und Läuse gab es überall, doch besonders dort, wo es warm war, wie unter den Armen, dem Gürtel, im Schritt und an den Knöcheln. Gudbrand, der der Tür am nächsten lag, hatte nicht schlafen können. Ihn quälten die Lauswunden, wie sie es nannten, die er an den Beinen hatte. Es waren offene Wunden in der Größe eines Fünf-Öre-Stücks, an deren Rändern die Läuse dicht an dicht saßen und sich labten. Gudbrand hatte in einem verzweifelten Versuch, sie abzuschaben, gerade das Bajonett genommen, als sich der Russe in der Türöffnung aufbaute und losballerte. Gudbrand hatte zwar nur dessen Silhouette gesehen, aber sofort am Umriss des erhobenen Moskin-Nagant-Gewehres erkannt, dass es sich um einen Feind handelte. Einzig mit dem stumpfen Bajonett

Weitere Kostenlose Bücher