Rotkehlchen
hatte Gudbrand den Russen derart zerstückelt, dass kein Tropfen Blut mehr in ihm war, als sie ihn später in den Schnee hinaustrugen.
»Beruhigt euch, Jungs«, sagte Edvard und zog Gudbrand zur Seite. »Du solltest ein bisschen ausruhen, Gudbrand, du bist doch schon vor einer Stunde abgelöst worden.«
»Ich gehe nach draußen und sehe nach ihm«, erklärte Gudbrand. »Nein, das tust du nicht!«, widersprach Edvard.
»Doch, ich …«
»Das ist ein Befehl!« Edvard schüttelte ihn an der Schulter. Gudbrand versuchte, sich loszureißen, doch der Unteroffizier hielt ihn fest.
Gudbrands Stimme überschlug sich und zitterte vor Verzweiflung: »Vielleicht ist er verwundet! Vielleicht hängt er einfach nur im Stacheldraht fest!«
Edvard klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. »Es wird bald hell«, sagte er, »dann werden wir herausfinden, was geschehen ist.«
Er warf einen kurzen Blick auf die anderen Männer, die die Szene wortlos beobachtet hatten. Sie begannen mit den Füßen im Schnee zu trampeln und leise miteinander zu flüstern. Gudbrand sah, wie Edvard zu Hallgrim Dale hinüberging und leise etwas zu ihm sagte. Dale hörte ihm zu und warf dann einen Blick auf Gudbrand. Gudbrand wusste, was das zu bedeuten hatte. Es war ein Befehl, auf ihn aufzupassen. Vor einer Weile war das Gerücht aufgekommen, dass er und Daniel mehr als nur gute Freunde seien. Und dass man ihnen nicht trauen könne. Mosken hatte sie geradeheraus gefragt, ob sie den Plan hätten, gemeinsam zu desertieren. Sie hatten das natürlich verneint, doch jetzt nahm Mosken wohl an, dass Daniel diese Gelegenheit zur Flucht genutzt hatte! Und dass Gudbrands Wunsch, nach seinem Kameraden zu »suchen«, nur ein Teil ihres Plans war, gemeinsam auf die andere Seite zu kommen. Gudbrand hätte am liebsten gelacht. Natürlich war es angenehm, an die verheißungsvollen Versprechungen von Essen, Wärme und Frauen zu denken, die die russischen Lautsprecher in einschmeichelndem Deutsch über die Schlachtfelder schickten. Doch wer glaubte schon daran? »Wollen wir wetten, ob er wiederkommt?« Das war Sindre. »Um drei Essensrationen, was meinst du?«
Gudbrand ließ seinen Arm sinken und spürte das Bajonett am Gürtel unter seiner Tarnuniform.
»Nicht schießen, bitte!«
Gudbrand wirbelte herum und erblickte über sich ein rotwangiges Gesicht unter einer russischen Uniformmütze, das ihn vom Rand des Schützengrabens aus anlächelte. Dann schwang sich der Mann hinüber und sprang mit einer angedeuteten Telemarklandung auf das Eis am Boden.
»Daniel!«, rief Gudbrand.
»Hoi!«, sagte Daniel und hob die Uniformmütze an. »Dobre Wetscha. «
Die Männer standen wie festgefroren da und starrten ihn an.
»Edvard«, rief Daniel, »du solltest unseren Holländern ein bisschen Dampf machen. Die haben mindestens fünfzig Meter zwischen den Lauschposten dort hinten.«
Edvard stand ebenso perplex da wie die anderen.
»Hast du den Russen begraben, Daniel?« Gudbrands Gesicht leuchtete vor Aufregung.
»Begraben?«, sagte Daniel. »Ich hab sogar das Vaterunser gesprochen und ihm ein Liedchen gesungen. Seid ihr denn schwerhörig? Ich bin sicher, dass die auf der anderen Seite es gehört haben.«
Dann kletterte er wieder auf den Rand, hob die Arme in die Luft und begann mit warmer, fester Stimme zu singen: »Ein feste Burg ist unser Gott …«
Die Männer begannen zu jubeln, und Gudbrand lachte derart, dass ihm die Tränen über die Wangen rollten.
»Verdammter Teufel, Daniel!«, platzte Dale heraus.
»Nicht Daniel. Nenn mich …« Daniel nahm die russische Uniformmütze ab und las, was auf der Innenseite des Futters stand. »… Urias. Der konnte sogar schreiben. Na ja, Bolschewik war er trotzdem.«
Er sprang in den Schützengraben hinunter und sah sich um.
»Es hat doch wohl niemand etwas gegen einen ordentlichen Judennamen, oder?«
Einen Augenblick lang waren alle still, dann brach Gelächter los, und die ersten begannen, »Urias« auf den Rücken zu klopfen.
Leningrad, 31. Dezember 1942
10 Es war kalt auf dem Maschinengewehrposten. Gudbrand trug alle seine Kleider, trotzdem klapperten seine Zähne. Er hatte jedes Gefühl in Fingern und Zehen verloren. Am schlimmsten waren die Beine. Er hatte die neuen Fußfelle um sie gewickelt, doch die halfen nicht viel.
Er starrte ins Dunkel. Sie hatten an diesem Abend nicht viel vom Iwan gehört, vielleicht feierte er Silvester. Vielleicht gab es etwas Gutes zu essen Lamm mit Weißkohl. Oder
Weitere Kostenlose Bücher