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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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willkommen. Dann aber war einer der Deutschen erschossen worden, als er einen Hasen holen wollte. Das brachte die Kommandeure auf die Idee, die Russen würden die Hasen vor denSchützengräben aussetzen, um ihre Gegner ins Niemandsland zu locken. Als ob die Russen freiwillig Hasen ausgesetzt hätten!
    Gudbrand betastete seine wunden Lippen und sah auf seine Uhr. Noch eine Stunde bis zur Ablösung. Er verdächtigte Sindre, sich Tabak in den Mastdarm gestopft zu haben, um Fieber zu bekommen; so etwas war ihm zuzutrauen.
    »Warum seid ihr aus Amerika zurückgekommen?«, fragte Daniel.
    »Wegen dem Börsenkrach. Mein Vater hatte seine Arbeit auf der Werft verloren.«
    »Na, siehst du«, sagte Daniel. »So ist der Kapitalismus. Die kleinen Leute leiden, während die Reichen nur noch reicher werden, egal, ob es mit der Wirtschaft bergauf oder bergab geht.«
    »Tja, so ist das nun mal.«
    »Bis jetzt war das so, aber jetzt wird alles anders werden. Wenn wir den Krieg gewinnen, hat Hitler sicher eine kleine Überraschung für diese Leute. Und dein Vater braucht sich um seinen Arbeitsplatz keine Sorgen mehr zu machen. Du solltest wirklich auch in die Partei eintreten.«
    »Glaubst du das wirklich?«
    »Du etwa nicht?«
    Gudbrand widersprach Daniel nicht gerne, und so zuckte er nur mit den Schultern, doch Daniel wiederholte die Frage.
    »Natürlich glaube ich das«, antwortete Gudbrand. »Aber ich denke doch zuallererst an Norwegen. Damit die Bolschewiken nicht zu uns ins Land kommen. Wenn sie kommen, werden wir jedenfalls zurück nach Amerika gehen.«
    »In ein kapitalistisches Land?« Daniels Stimme klang jetzt schärfer. »In eine Demokratie, die in den Händen der Reichen liegt und Spielball des Zufalls und irgendwelcher korrupter Anführer ist?«
    »Lieber das als Kommunismus.«
    »Die Demokratien haben ausgespielt, Gudbrand. Schau dir doch nur Europa an. England und Frankreich sind doch schon lange vor dem Krieg vor die Hunde gegangen – Arbeitslosigkeit und Ausbeutung auf der ganzen Linie. Es gibt nur zwei Leute, die stark genug sind, Europas Absturz in das Chaos zu verhindern, und das sind Hitler und Stalin. Eine andere Wahl haben wir nicht. Ein Brudervolk oder die Barbaren. Es gibt nur wenige bei uns zu Hause, die begriffenhaben, was für ein Glück wir hatten, dass die Deutschen zuerst zu uns gekommen sind, und nicht Stalins Schlächter.«
    Gudbrand nickte. Es war nicht nur das, was Daniel sagte, sondern auch die Art, wie er es sagte. Mit einer solchen Überzeugung.
    Plötzlich brach es los und der Himmel vor ihnen war taghell von all den Explosionen. Der Boden zitterte, und gelber Lichtschein wurde von braunem Erd-und Schneeregen abgelöst, der sich wie von selbst in die Luft zu werfen schien, wenn die Granaten einschlugen.
    Gudbrand lag bereits, die Hände über dem Kopf, auf dem Boden des Schützengrabens, als das Ganze ebenso schnell vorüber war, wie es angefangen hatte.
    Er sah nach oben zum Rand, hinter das Maschinengewehr, wo Daniel aus vollem Hals lachte.
    »Was machst du?«, rief Gudbrand. »Gib das Signal, dass die Leute wieder hochkommen können!«
    Doch Daniel lachte nur noch lauter. »Mein lieber, lieber Freund«, rief er und hatte Tränen in den Augen. »Frohes neues Jahr!«
    Daniel deutete auf die Uhr und es begann Gudbrand zu dämmern. Daniel hatte anscheinend auf das Neujahrsfeuerwerk der Russen gewartet, denn jetzt schob er seine Hand in den Schnee, der vor dem Wachposten aufgetürmt war, um das Maschinengewehr zu tarnen.
    »Brandy«, rief er und hob eine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit triumphierend in die Höhe. »Die hab ich schon seit drei Monaten aufbewahrt. Nimm einen Schluck.«
    Gudbrand hatte sich auf die Knie aufgerichtet und lachte Daniel an.
    »Du zuerst!«, rief Gudbrand.
    »Sicher?«
    »Ganz sicher, alter Freund, du hast sie aufbewahrt. Aber trink nicht alles.«
    Daniel schlug an den Flaschenhals, so dass der Korken heraussprang, und hob die Flasche an.
    »Auf Leningrad, im Frühling trinken wir im Winterpalast«, proklamierte er und nahm die russische Uniformmütze ab. »Und im Sommer sind wir wieder zu Hause und werden in unserem geliebten Norwegen wie Helden empfangen.«
    Er hielt sich die Flasche an den Mund, legte den Kopf in denNacken, und die braune Flüssigkeit gluckste und tanzte im Flaschenhals. Es blinkte, als sich das Licht des herabsinkenden Feuerscheins auf dem Glas spiegelte – in den nächsten Jahren sollte Gudbrand noch oft daran denken und sich fragen, ob es

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