Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
überaus ernst. Unter anderen Umständen hätte sie die Zeugen darum gebeten, sich umzuziehen, aber jetzt zählte jede Minute. Sie saßen in einem Nebenraum des großen Speisesaals. Die Stimmen der Turnierteilnehmer drangen durch die Wand. Vereinzelt hörte man Auflachen.
»Hat einer von euch den Mann da draußen gekannt?«
Die drei schüttelten betreten den Kopf. Nyström hatte nicht den Eindruck, dass sie sich den Toten sehr genau angesehen hatten, aber wer wollte ihnen das verdenken?
»Ich nehme an, die anderen Bogenschützen wissen noch nicht Bescheid?«
»Gott bewahre! Das Letzte, was wir hier wollen, ist eine Massenpanik!«
Die schrille Stimme von Mona Wedén konterkarierte ihre Aussage. Ihr mächtiger Busen vibrierte vor Aufregung unter dem rosafarbenen Tüll.
»Wir haben sofort die Polizei gerufen«, ergänzte Wicander. »Natürlich hat jeder mitbekommen, dass hier etwas geschehen ist. Deshalb haben wir vorläufig nur bekannt gegeben, dass es einen Unfall gegeben hat.«
»Das habt ihr gut gemacht«, lobte Nyström.
Kurz lächelte der Elbenmann, dann sah er wieder betroffen aus.
»Wie soll es denn jetzt weitergehen?«, fragte er. »Schließlich soll in einer halben Stunde das Turnier losgehen.«
»Wo wir doch internationale Sportfreunde hier haben«, piepste Wedén.
Nyström seufzte.
»Ich fürchte, es sieht nicht gut aus für eure Veranstaltung. Zum einen ist da der Tatort, den wir natürlich weiträumig absperren müssen. Und zum anderen ist da das Opfer. Ihr habt es ja gesehen. Die Pfeile und alles. Und nebenan frühstücken fünfzig Bogenschützen. In unseren Augen sind das selbstverständlich erst einmal fünfzig potenziell Verdächtige, beziehungsweise Zeugen. Euch eingeschlossen. So leid es mir tut.«
Der Elb wurde noch blasser, dem Burgfräulein schoss dagegen das Blut in den Kopf.
»Aber ...«, sagte es mit hochrotem Gesicht.
»... es kann gar keiner von uns Bogenschützen gewesen sein!«
Peter Quist, der Römer, hatte seinen geharnischten Oberkörper nach vorne geschoben. Imperialer Triumph schwang in seiner Stimme mit, die roten Borsten der Quaste auf seinem Helm wippten.
»Wie kannst du dir da sicher sein?«
Nyström und die beiden anderen sahen Quist an.
»Weil die Pfeile, die in dem Leichnam stecken, gar nicht von einem Bogen stammen. Diese Edelstahldinger ohne Befiederung und Nocke verschießt man mit einer Harpune.«
»Bitte?«
»Sieh doch, hier.«
Quist langte mit seinem rechten Arm über seine linke Schulter. Erst jetzt bemerkte Nyström, dass er einen Köcher auf dem Rücken trug. Er angelte einen der Pfeile hervor.
»Dies hier ist ein typischer Holzpfeil, wie er beim traditionellen oder historischen Bogenschießen verwendet wird. Früher waren solche Pfeile meistens aus Esche, heute verwendet man häufig Zeder oder auch Kiefern- oder Fichtenholz. Siehst du die Befiederung hier? Wir Traditionalisten verwenden eingefärbte Truthahnfedern. In Japan gibt es auch Großmeister, die echte Adlerfedern verwenden, aber dann kann ein einzelner Pfeil mehrere Tausend Kronen kosten. Und dies hier, der Schlitz am Ende des Schafts, den nennt man Nocke. Damit legt man den Pfeil auf die Sehne des Bogens. Ein Harpunenpfeil dagegen braucht weder Nocke noch Befiederung. Eine Harpune funktioniert meistens mit Druckluft. Die Pfeile, die in dem Mann da draußen stecken, sind Harpunenpfeile.«
»Ein Tauchmörder!«, rief Wedén. »Wie in diesem Film mit den Grachten, Verfluchtes Amsterdam !«
Nyström sah sie streng an. Die Frau sah aus, als wolle sie gleich vor Verzückung in die Hände klatschen. Aus dem Spalt zwischen ihren Brüsten war der Anhänger einer feingliedrigen Halskette gerutscht. Es war ein goldener Amor mit Pfeil und Bogen.
3
»Wo er recht hat, hat er recht«, murmelte Bo Örkenrud. Er schwitzte merklich in seinem Overall, der Kunststoff klebte auf seiner Haut und wurde an den Ellbogen bereits durchsichtig. Auch wenn die hohen Fichten vor der direkten Sonneneinstrahlung schützten, war es im Wald mittlerweile wärmer geworden. Zwischen den Bäumen funkelte das Wasser des Sees. Ein Motorboot knatterte vorbei.
»Es sind eindeutig Harpunenpfeile. Keine Federn, keine Nocke.«
»Heißt das, dass diese Pfeile unter Wasser abgeschossen worden sind?«
»Nein, nicht zwangsläufig. Eine Harpune funktioniert ebenso gut an Land. Auch wenn man mit solchen unbefiederten Pfeilen wohl nicht so genau zielen kann wie mit einem Sportbogen, jedenfalls nicht auf weite Distanz. Aber wer sagt
Weitere Kostenlose Bücher