Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
schon, dass der Täter weit vom Opfer entfernt war? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man mit ein wenig Übung auch eine Harpune als tödliche Waffe benutzen kann. Trotzdem würde ich keinen dieser Bogenschützen als Täter ausschließen.«
»Nein, natürlich nicht. Aber es ist dennoch sehr merkwürdig. Auf einem Treffen von historischen Bogenschützen wird ein Mann mit Harpunenpfeilen getötet. Man bindet ihn nackt an einen Baum und dann schießt man auf ihn. Pfeil um Pfeil.«
»Es gibt einiges, das dagegen spricht, dass es so gelaufen ist. Auch wenn wir alle Hinweise erst sorgfältig auswerten müssen: Ich glaube nicht, dass er hier gestorben ist. Wir haben kaum Blut auf dem Boden gefunden, es gibt keinerlei Spuren, die auf einen Kampf hinweisen. Auf seinem Körper kleben Birkenblätter und Kiefernnadeln, dabei stehen hier überall nur Fichten. Ich denke, er ist hier hergebracht worden, nachdem er getötet worden ist.«
»Verdammt, Bo, was bedeutet das?«
Der große Mann zuckte mit den Schultern, wischte sich Schweiß vom Gesicht.
»Ich habe absolut keine Ahnung.«
Die Gerichtsmedizinerin Ann-Vivika Kimsel wandte sich ihnen zu. Ihr Gesicht war blutleer und in ihrer Stimme fand Nyström nichts von der kecken Fröhlichkeit wieder, die sie sonst an ihrer Freundin schätzte.
»Ich stimme mit Bo überein. Der Mann hat vor seinem Tod eine große Menge Blut verloren, aber davon ist hier nichts zu sehen. Dazu kommt, dass in seinem Körper mindestens ein Dutzend Knochen gebrochen worden sind. In der Haltung, in der er dort steht, können diese schweren Misshandlungen nicht begangen worden sein. Von daher gehe ich auch davon aus, dass das hier nicht der Tatort ist. Er ist hier abgeladen worden. Oder vielmehr zur Schau gestellt.«
»Wie lange ist er bereits tot?«
»Einige Stunden. Seit dem frühen Morgen. Später kann ich Genaueres sagen.«
»Gibt es immer noch nichts zur Identität des Mannes?«
Delgado schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht mal im Ansatz. Wir haben nichts in der Nähe gefunden, was zu dem Leichnam zu gehören scheint. Keine Kleidung. Auch keine Schleifspuren. Dabei war er ein kräftiger, großer Mann.«
Nyström biss sich auf die Unterlippe.
»Wir müssen wissen, wer er ist. So bald wie möglich. Danach kommt alles andere.«
4
Es dauerte mehrere Stunden, bis die Untersuchungen am Tatort abgeschlossen waren. Unterdessen war die Stimmung bei den Turnierteilnehmern vollständig gekippt. Man hatte sie über das Geschehene und den Ausfall der Veranstaltung informiert. Von sämtlichen Anwesenden wurden die Personalien aufgenommen und mit den Daten der Anmeldelisten abgeglichen. Polizisten befragten die Teilnehmer in Zweier- oder Dreiergruppen. Gut ein Drittel der Sportschützen, überwiegend Gäste von außerhalb, war bereits am Vorabend in Humlehöjden eingetroffen und hatte im Gutshaus übernachtet. Niemand hatte in der Nacht oder am frühen Morgen etwas Ungewöhnliches bemerkt. Die meisten waren jedoch erst zum gemeinsamen Frühstück eingetrudelt. Bis auf eine Frau aus Karlskrona, die wegen einer akuten Thrombose hatte absagen müssen, fehlte keiner der angemeldeten Teilnehmer. Nyström spürte die Unruhe und Verwirrung der Menschen, nur wenige zeigten unverhohlene Neugier. Eine Elfenfrau begann zu weinen, ein Robin Hood lachte hysterisch. Auch wenn sich Nyström dagegen sträubte, sah sie keine andere Möglichkeit, als den Schützen ein Foto des getöteten Mannes zu zeigen. Ihrer Meinung nach konnte es kein Zufall sein, dass der grotesk zugerichtete Leichnam in unmittelbarer Nähe des Bogenturniers drapiert worden war. Daraus ergab sich für sie nur die eine Schlussfolgerung, dass der unbekannte Tote in einer Beziehung zu einem der Teilnehmer stehen musste; irgendjemand musste den ermordeten Mann kennen, was ergäbe das Ganze sonst für einen Sinn? Natürlich war ihr bewusst, dass sie den Sportschützen damit eine Menge zumutete. Das Foto, das Delgado mit seinem Smartphone aufgenommen hatte, war grauenhaft: ein geschundener Körper, ein verschwollenes, zertrümmertes Gesicht.
Leider gab es keine Alternative. Einen Zeichner aufzutreiben und hierherkommen zu lassen, das hätte Zeit gekostet, die ihnen nicht zur Verfügung stand. Auch wenn sie noch nicht im Ansatz ahnte, welche Richtung diese Ermittlung nehmen sollte, so sagte ihr Gefühl, dass sie zügig handeln müsse. Nicht überstürzt, aber schnell und bestimmt. Etwas tun.
Die Menschen, denen sie das Foto zeigten, reagierten vollkommen
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