Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
nein, vielmehr von der Erregung verrieten, die angesichts des Fotos von dem so grausam getöteten Mann in ihn gefahren war. Was er Delgado zu erklären versuchte, war Folgendes: Der Tote war in seinen Augen Sankt Sebastian. Der Heilige. Der Märtyrer. Der Schutzpatron der Eisenhändler, Waldarbeiter, Steinmetze und Leichenträger. Und wenn er es nicht tatsächlich war, so sah derjenige genauso aus wie Sankt Sebastian. Und wieso sollte jemand aussehen wie ein Heiliger, wenn nicht zu dem Zweck, dass Gott den Menschen damit ein Zeichen geben wolle.
»Ein Zeichen?«, fragte Nyström.
Ignatio nickte.
»Wofür denn ein Zeichen?«, fragte sie.
Die gütigen braunen Augen sahen sie an.
» I don’t know. You’re the police, aren’t you ?«
Worauf du wetten kannst, dachte sie. Sie antwortete auf Englisch:
»Danke, dass du uns geholfen hast, du kannst jetzt gehen. Es sei denn, mein Kollege hat noch eine Frage.«
Sie sah zu Delgado, doch der reagierte nicht. Er wischte stattdessen auf seinem Mobiltelefon herum, es war eins dieser Dinger ohne Tasten, wie Anders auch eins hatte.
»Hier hab ich’s«, sagte er.
Er hielt ihr das Display entgegen. Ein Bild aus dem Internet. Ein Ölgemälde. Und tatsächlich: Sankt Sebastian, der Märtyrer. Dargestellt von Andrea Mantegna, 1456–1459, wie die Bildunterschrift verriet. Ein Mann an eine Säule gefesselt, von Pfeilen durchbohrt.
Himmelschreiendes Leid.
Marter.
Sie sah zu Ignatio. Auch er hatte das Bild gesehen, er nickte heftig. Sie sah zu Delgado. Der tippte schon wieder auf seinem Smartphone herum.
»Oh«, sagte er dann.
»Was?«
»Das ist merkwürdig, was hier steht, Ingrid.«
»Was?«
Ihre Haut spannte. Delgado räusperte sich, als habe er etwas im Hals.
»Also dieser Sankt Sebastian, das war ein christlicher Märtyrer aus dem dritten Jahrhundert. Ein römischer Prätorianerhauptmann, der sich öffentlich zum Christentum bekannte. Daraufhin verurteilte ihn Kaiser Diokletian zum Tode und ließ ihn von numidischen Bogenschützen erschießen. Aber Sebastian überlebte, woraufhin man ihn mit Keulen erschlug und anschließend in eine Kloake warf. So weit erzählt es die Legende, Wikipedia zufolge.«
Die Pfeile.
Der geschundene, von Blutergüssen gezeichnete Körper.
Der starke Geruch nach Exkrementen.
»Oh, mein Gott!«, flüsterte sie.
7
Lars Knutsson nippte an der Tasse, die vor ihm stand. Der Kaffee war lauwarm und bitter, auch wenn er das nur am Rande wahrnahm. Seine Seele war in Aufruhr und das war für ihn ein emotionaler Ausnahmezustand, ruhte das Gemüt des besonnenen, bärtigen Manns doch sonst fest in seinem großen, beleibten Körper. Knutsson fühlte sich wie in einem schlimmen Traum, aus dem es kein Erwachen gab. Draußen im Wald hing ein zertrümmerter und gemarterter Körper an einem Baum und hier, in Humlehöjden, huschten seltsame Gestalten mit ihren Pfeilen und Bögen durch die Räume. Die bedrückende, unwirkliche Atmosphäre erinnerte ihn an die traumatischen Szenerien des Malers Hieronymus Bosch, die er einmal vor vielen Jahren in einer Ausstellung im Urlaub in Rotterdam hatte sehen müssen, weil seine kulturbeflissene Frau Lisa ihn hineingezerrt hatte, und es verlangte ihm nun nicht allzu viel Fantasie ab, sich vorzustellen, wie missgebildete Tierwesen, die aus überdimensionierten Eierschalen krochen und mit abenteuerlichsten Folterwerkzeugen bewaffnet waren, das Albtraumszenario vervollständigten. Natürlich war das Quatsch. Das hier war die Realität. Aber es war verführerisch, seinen sich verselbstständigenden Gedanken nachzuhängen, bargen sie doch die vage Möglichkeit, dass er vielleicht tatsächlich noch träumte und gleich aufwachen könnte, um den Tag mit einem ausgiebigen Frühstück und einem guten Kaffee zu beginnen und anschließend zu Hause die Ausbesserungsarbeiten am Steg vorzunehmen, die er sich eigentlich für dieses Wochenende, dem womöglich schönsten und sonnigsten des Jahres, vorgenommen hatte. Das Klingeln seines Handys riss ihn abrupt aus seinen Gedanken, Kaffee schwappte auf seine Hose. Fluchend nahm er das Gespräch an. Es war Olsson von der Zentrale.
»Kajakfahrer haben einen toten Hund gefunden. Auf Musön.«
»Verdammt, Stig, dafür rufst du mich an? Falls es sich bei euch noch nicht rumgesprochen hat: Wir haben hier einen Mord wie aus einem Horrorfilm, dazu fünfzig bekloppte Bogenschützen und einen Mönch mit Erscheinungen! Und du nervst mich mit einem toten Köter?«
»In dem Kadaver stecken Pfeile,
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