Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Die jungen Dänen waren auf dem Weg zu einem Rockfestival. Oleg, das war der behaarte Rücken. Gestern war er aus Berlin gekommen, um mit ihr ihren vierunddreißigsten Geburtstag zu feiern. Oleg war ein guter Freund, ein gebürtiger Russe. Und beruflich Saunameister. Deshalb hatte sie die Hütte am Helgasee gemietet. Schwitzen und saufen, skandinavischer kann man seinen Geburtstag nicht begehen, hatte sie gedacht. Wo sie nun schon mal hier war, in diesem seltsamen Land ihrer Kindheit, das so weitläufig war und doch so eng sein konnte, dass ihr viel zu oft die Luft wegblieb. Vier Monate war das her, dass sie ihr Leben in Berlin aufgegeben hatte, um nach Schweden, in das Land ihres Vaters, zurückzukehren. Ins ländliche Småland, in die Provinz. Zurückgelassen hatte sie eine Karriere bei der Berliner Mordkommission und eine Beziehung, die zu schwer war, um zu funktionieren. Eingetauscht gegen die Nähe und nicht minder schwierige Beziehung zu ihrem kranken Vater. Und ein Anerkennungsjahr im schwedischen Polizeidienst, in dem sie zweimal die Woche die Schulbank drücken musste, in dem man sie nach wenigen Wochen wegen disziplinarischen Schwierigkeiten gemaßregelt hatte, strafversetzt in den regulären Verkehrs- und Streifendienst. Anfängerarbeit: monatelang Autos blitzen, Unfälle aufnehmen, Lkw-Fahrer ins Röhrchen pusten lassen. Die Situation war vollkommen lächerlich.
Nach einem langen Winter und einem verregneten Frühling war es nun wenigstens endlich Sommer geworden. Ihre Cousine Maj hatte recht gehabt, Schweden war ein anderes Land im Sommer. Innerhalb von wenigen Wochen war das ganze Grau da draußen explodiert. Der See spiegelte das Blau des Himmels, der Horizont war ein Gürtel aus üppigem Grün. Warmes Licht strömte durch die offene Tür in die Hütte, bedeckte den Boden, ihre nackten Beine. Sie hatte sich noch immer nichts übergezogen. Irgendwie schien es nicht notwendig. Dass sie das so empfand, lag vielleicht auch an den Substanzen, die sich noch in ihrem Blutkreislauf befanden, weil ihre Leber sie noch nicht abgebaut hatte. Jedenfalls schien der junge Erik oder Claas die Sache genauso zu sehen. Unbekleidet und schweigend tranken sie ihren Kaffee. Schließlich räusperte er sich. Sein Dänisch klang kehlig.
»Haben wir gestern eigentlich ...?«
In dem Moment brummte ihr Handy. Es kroch vibrierend zwischen den leeren Fischdosen hindurch.
Sie nahm das Gespräch an. Die Frage des jungen Mannes blieb offen im Raum stehen. Sie hätte auch keine Antwort darauf gewusst.
6
Es stellte sich heraus, dass der Mönch wirklich ein Mönch war. Bruder Ignatio kam aus einem Benediktinerkloster in der Lombardei und war damit der Sportfreund mit der weitesten Anreise und gleichzeitig der Einzige der historischen Bogenschützen, der nicht verkleidet war, sondern seinem ungewöhnlichen Hobby in seiner Alltagskleidung nachgehen konnte, abgesehen vielleicht von seinen neongelben Reebok-Turnschuhen, von denen sich Ingrid Nyström nicht vorstellen konnte, dass er sie in San Benedetto di Polirone zu seiner täglichen Morgenandacht trug. Im Grunde war sie jedoch bereits in einer Gemütsverfassung, in der sie überhaupt nichts mehr wunderlich fand. Sie saß gemeinsam mit Hugo Delgado und dem jungen Italiener in einem Nebenraum des Speisesaals, den man zu einer provisorischen Einsatzzentrale umfunktioniert hatte. Nach dem ergebnislosen Versuch, den Toten mithilfe eines Fotos zu identifizieren, hatte man die Turnierteilnehmer, die sich mittlerweile zum Großteil umgezogen hatten, wieder in den Speisesaal geordert, wo es Mittagessen gab und sich ein Arzt und eine Psychologin um die aufgebrachten und mitgenommenen Menschen kümmerten. Keiner der Anwesenden hatte den Toten erkannt. Da war nur Bruder Ignatio und seine, nun ja, Reaktion, oder wie man das, was vorhin geschehen war, auch immer nennen wollte. Wenigstens wurde bald deutlich, dass sie im Gespräch mit dem Mönch keinen Dolmetscher brauchten, da er trotz seines Akzents ein solides Englisch sprach, das Delgado und ihr keine Probleme bereitete. Der Mann machte keinesfalls einen wirren oder verklärten Eindruck, aber bei diesen religiösen Eiferern wusste man ja nie, dachte Nyström. Als Schwedin war sie natürlich protestantisch, noch dazu mit einem lutherischen Pastor verheiratet, und alles Katholische war ihr erst einmal fremd, ja sogar ein wenig suspekt.
Ignatio machte den Eindruck eines ernsthaften jungen Mannes, dessen braune Augen noch viel von dem Schreck,
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