Rousseau's Bekenntnisse
habe ich von Lyons Bevölkerung einen wenig vorteilhaften Eindruck behalten, und ich habe diese Stadt stets als diejenige in Europa betrachtet, in welcher die abscheulichste Sittenverderbnis herrscht.
Die Erinnerung an die Drangsale, in welche ich dort gerieth, trägt ebenfalls nicht dazu bei, mir ein angenehmes Andenken an diese Stadt zu bewahren. Wäre ich wie ein Anderer gewesen, hätte ich das Talent besessen, zu borgen und in meinem Wirthshause Schulden zu machen, so würde ich mich leicht aus meiner Lage gezogen haben; aber hierin war meine Ungeschicklichkeit eben so groß wie meine Ungeneigtheit. Um sich einen Begriff davon zu machen, wie groß beide waren, genügt es zu wissen, daß es, nachdem ich fast mein ganzes Leben in Noth zugebracht und oft kaum das tägliche Brot hatte, auch nicht einmal vorgekommen ist, daß ein Gläubiger von mir sein Geld verlangt hätte, ohne sofortige Zahlung zu erhalten. Ich habe mich nie darauf verstanden, Läpperschulden zu machen, und stets lieber Noth gelitten als geborgt.
Das heißt doch sicherlich Noth leiden, wenn man gezwungen ist, die Nacht auf der Straße zuzubringen, wozu ich mich in Lyon mehrmals entschließen mußte. Ich wollte die wenigen Sous, die mir noch blieben, lieber für das nöthige Brot als für mein Nachtlager ausgeben, weil doch die Gefahr, vor Schläfrigkeit zu sterben, jedenfalls geringer war, als die zu verhungern. In dieser traurigen Lage war ich merkwürdiger Weise weder unruhig noch sorgenvoll. Um die Zukunft hatte ich nicht die geringste Sorge und erwartete die Nachrichten, welche Fräulein du Chatelet empfangen mußte, unter freiem Himmel, auf der Erde oder auf einer Bank ausgestreckt, so ruhig schlafend, als läge ich auf einem Bett von Rosen. Ich entsinne mich sogar, draußen vor der Stadt auf einem Wege, der sich längs der Rhone oder der Saone, ich weiß nicht mehr an welcher von beiden, hinzog, eine köstliche Nacht zugebracht zu haben. Auf der andern Seite faßten den Weg terrassenförmige Gärten ein. Es war an jenem Tage sehr heiß gewesen; der Thau erfrischte die welken Gräser; kein Windhauch, eine stille Nacht; die Luft war frisch ohne kalt zu sein; die Sonne hatte nach ihrem Untergange rothe Dunstwolken am Himmel zurückgelassen, in deren Wiederschein das Wasser rosig erglühte; zahlreiche Nachtigallen saßen in den Bäumen auf den Terrassen und antworteten einander. Ich wandelte in einer Art von Verzückung umher, mich mit Herz und Sinnen dem Genusse alles dessen überlassend und nur ein wenig seufzend, daß ich es allein genießen mußte. In meine süße Träumerei versunken, ging ich bis spät in der Nacht spazieren, ohne Ermüdung zu fühlen. Endlich übermannte sie mich doch. Mit wahrer Wollust legte ich mich auf die Steinplatte einer Art Nische oder blinden Thüre nieder; Baumgipfel bildeten meinen Betthimmel; gerade über mir saß eine Nachtigall; bei ihrem Gesange schlief ich ein; mein Schlummer war süß, mein Erwachen noch süßer. Es war heller lichter Tag; als sich meine Augen öffneten, erblickten sie den Fluß, grünen Rasen, eine liebliche Landschaft. Ich erhob und schüttelte mich; ich verspürte Hunger, und heiteren Sinnes machte ich mich auf den Weg nach der Stadt, entschlossen, zwei Weißpfennigstücke, die ich nur noch besaß, für ein gutes Frühstück auszugeben. Ich war so fröhlicher Laune, daß ich auf dem ganzen Wege sang, und ich erinnere mich sogar, daß ich eine Cantate von Batistin, »die Bäder von Thomery«, die ich auswendig wußte, sang. Gesegnet sei der gute Batistin und seine schöne Cantate, die mir ein besseres Frühstück, als worauf ich mir Rechnung gemacht hatte, verschaffte, und ein noch weit besseres Mittagsessen, auf das ich gar nicht gerechnet hatte. Während ich im besten Marschiren und Singen begriffen bin, höre ich jemanden hinter mir; als ich mich umdrehe, gewahre ich einen Antoniter, [Fußnote: Die Antoniter bildeten einen säcularisirten Mönchsorden.] der hinter mir hergeht und mir mit Vergnügen zuzuhören scheint. Er tritt an mich heran, grüßt mich und fragt, ob ich musikalisch sei? Ich antworte »ein wenig«, um anzudeuten »in hohem Grade.« Er fährt fort, mich auszufragen; ich erzähle ihm einen Theil meiner Geschichte. Er fragt mich, ob ich mich nie mit Noten abschreiben beschäftigt habe? »Oft,« erwidere ich. Und das beruhte auf Wahrheit; durch Abschreiben lernte ich die Musikstücke nämlich am besten. »Nun,« sagte er zu mir, »dann kommen Sie mit mir. Ich werde Sie
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