Rousseau's Bekenntnisse
immer auf dem geraden Wege geblieben, denn in dem dunklen Gefühle, daß ich mich in Lyon wieder auf die Erde, zurückfinden würde, hätte ich es nie erreichen mögen.
Als ich unter andrem eines Tages absichtlich die Landstraße verlassen hatte, um mir eine Stätte, deren herrliche Lage mich angezogen, aus der Nähe zu betrachten, gefiel es mir dort so gut und machte ich so viele Gänge durch dieselbe, daß ich mich endlich völlig verirrte. Nach mehrstündigem vergeblichem Umherwandern trat ich müde und sterbend vor Hunger und Durst bei einem Bauern ein, dessen Haus kein schönes Aeußere hatte; es war jedoch das einzige, das ich in der Nähe gewahrte. Ich wähnte, es müßte hier wie in Genf oder in der Schweiz sein, wo alle wohlhabende Bewohner im Stande sind, Gastlichkeit zu üben. Ich bat den Besitzer des Hauses, mir für Geld zu essen zu geben. Er setzte mir abgerahmte Milch und grobes Gerstenbrot vor, wobei er versicherte, das wäre alles, was er hätte. Ich trank diese Milch mit Gier und aß dieses Brot nebst der Kleie und was sonst noch darin war; aber für einen von Müdigkeit erschöpften Menschen war dies nicht allzu stärkend. Der Bauer, welcher mich prüfend ansah, schloß aus meinem Appetit auf die Wahrheit meiner Angaben. Mit der Bemerkung, er sähe wohl, [Fußnote: Augenscheinlich hatte ich damals jene Physiognomie noch nicht, welche man mir später auf meinen Porträts gegeben hat.] daß ich ein guter, ehrlicher junger Mann wäre, der nicht die Absicht hätte, ihn zu verkaufen, öffnete er mit einem Male eine Fallthür neben der Küche, stieg hinab und kam einen Augenblick später mit einem guten Schwarzbrote von reinem Roggen, einem sehr appetitlichen, wenn auch schon angeschnittenen Schinken und einer Flasche Wein zurück, deren Anblick mein Herz mehr erfreute, als alles übrige; dazu fügte er einen ziemlich dicken Eierkuchen, und ich speiste zu Mittag, wie kein anderer als ein Fußgänger speisen kann. Als es ans Bezahlen ging, kam seine Unruhe und Angst wieder zum Vorschein; er wollte mein Geld nicht, er wies es mit eigenthümlicher Verlegenheit zurück, und das Drolligste dabei war, daß ich mir nicht vorstellen konnte, weswegen er sich fürchtete. Endlich sprach er schaudernd die schrecklichen Worte Schreiber und Kellerratten aus. Er ließ durchblicken, daß er seinen Wein wegen der Beamten, sein Brot wegen der Besteuerung versteckte und ein verlorener Mann wäre, wenn man Verdacht hegte, daß er dem Hungertode noch nicht nahe wäre. Alles, was er mir hierüber sagte, und wovon ich nicht die leiseste Ahnung hatte, machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich. Dies war der Keim jenes unausrottbaren Hasses, der sich in meinem Herzen seitdem gegen die Plagen, welche das unglückliche Volk erleidet, und gegen seine Unterdrücker entwickelte. Trotz seiner Wohlhabenheit wagte dieser Mann nicht das Brot zu essen, welches er sich im Schweiße seines Angesichts sauer verdient, und konnte das Verderben nicht anders von sich abwenden, als daß er dasselbe Elend zur Schau trug, das rings um ihn herrschte. Ich schied aus seinem Hause eben so entrüstet wie gerührt, und das Loos dieser schönen Gegenden beklagend, an welche die Natur nur ihre Gaben verschwendet hat, um sie eine Beute der barbarischen Zollpächter werden zu lassen.
Das ist die einzige ganz deutliche Erinnerung, die mir von dem, was ich auf dieser Reise erlebt habe, geblieben ist. Ich entsinne mich nur noch, daß ich mich, als ich Lyon näher kam, versucht fühlte, meinen Weg zu verlängern, um die Ufer des Lignon zu sehen; denn unter den Romanen, welche ich mit meinem Vater gelesen hatte, war Asträa nicht vergessen worden, und war derjenige, der in meiner Erinnerung am häufigsten wieder aufstieg. Ich erkundigte mich, welchen Weg ich nach Forez einschlagen müßte, und in einem Zwiegespräche mit einer Wirthin belehrte mich dieselbe, daß die dortige Gegend den Arbeitern reiche Hilfsquellen eröffnete, daß sich dort viele Schmieden fänden und man daselbst ausgezeichnete Eisenarbeiten machte. Dieses Lob beschwichtigte augenblicklich meine romantische Neugier, und ich glaubte mich der Mühe überheben zu können, unter einem Volke von Schmieden Dianen und Sylvander zu suchen. Die ehrliche Frau, die mich auf diese Weise ermuthigte, hatte mich gewiß für einen Schlossergesellen gehalten.
Ich ging nicht ganz zwecklos nach Lyon. Bei meiner Ankunft besuchte ich in Chasottes Fräulein de Chatelet, eine Freundin der Frau von Warens, an
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