Rousseau's Bekenntnisse
einige Tage beschäftigen können, in denen es Ihnen an nichts fehlen soll, falls Sie darauf eingehen, das Zimmer nicht zu verlassen.« Ich ging sehr gern darauf ein und folgte ihm.
Dieser Antoniter hieß Rolichon; er liebte die Musik, verstand sie und sang in kleinen Concerten, die er mit seinen Freunden veranstaltete. Es kam dabei nur Unschuldiges und Ehrbares vor, aber diese Neigung artete wahrscheinlich in Leidenschaft aus, welche er theilweise zu verbergen gezwungen war. Er geleitete mich in eine kleine Kammer, die ich bewohnen sollte, und in der ich eine Menge Musikalien, Abschriften von seiner eigenen Hand, vorfand. Er gab mir andere zum Abschreiben, namentlich die Cantate, welche ich gesungen hatte, und die er selbst in einigen Tagen vortragen sollte. Ich brachte dort drei oder vier Tage zu, die ganze Zeit, in der ich nicht aß, abschreibend; aber mein Essen nahm freilich viele Zeit in Anspruch, denn nie in meinem Leben war ich so ausgehungert und besser verpflegt. Er brachte mir meine Mahlzeiten selbst aus ihrer Küche, und sie mußte gut sein, wenn ihr gewöhnlicher Tisch wie der meinige besetzt war. In allen meinen Tagen hatte ich nicht so große Lust am Essen, und man muß auch zugeben, daß mir diese gute Kost sehr zu gelegener Zeit kam, denn ich war bereits dürr wie Holz. Ich arbeitete fast eben so gern wie ich aß, und das will nicht wenig sagen. Allerdings war ich nicht eben so sorgfältig wie fleißig. Als ich Herrn Rolichon einige Tage später auf der Straße traf, sagte er mir, daß die von mir ausgeschriebenen Stimmen die Musik unausführbar gemacht hätten, so zahlreiche Auslassungen, Verdoppelungen und Versetzungen wären in ihnen vorgekommen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß ich mich in der Folge gerade dem Geschäfte zugewandt habe, zu dem ich am allerwenigsten geeignet war; nicht, daß meine Noten nicht schön gewesen und ich nicht sehr sauber abgeschrieben hätte, aber die Langeweile einer großen Arbeit zerstreut mich dermaßen, daß ich mehr Zeit gebrauche zu radiren als Noten zu schreiben, und daß, wenn ich nicht bei der Vergleichung der Stimmen mit der größten Aufmerksamkeit zu Werke gehe, sich die von mir abgeschriebenen Musikstücke nicht vortragen lassen. So machte ich also meine Sache sehr schlecht, während ich sie gut machen wollte, und ging, um schnell zu gehen, in die Quere. Dies hielt Herrn Rolichon nicht ab, mich bis zum Ende mit gleicher Güte zu behandeln und mir beim Scheiden noch einen Thaler zu geben, den ich keineswegs verdient hatte und der mich wieder auf die Beine brachte, denn wenige Tage später erhielt ich von Mama, die sich in Chambery aufhielt, Nachrichten und Geld zu meiner Rückreise zu ihr, die ich mit Entzücken antrat. Seitdem habe ich mich oft in sehr dürftigen Geldverhältnissen befunden, aber nie in so schlimmen, daß ich hätte darben müssen. Ich zeichne diesen Zeitpunkt mit einem Herzen voll Dank gegen die Fürsorge der Vorsehung auf. Es ist das letzte Mal in meinem Leben, daß ich Noth und Hunger ausgestanden habe.
Noch sieben oder acht Tage blieb ich in Lyon, um die Ausführung der Aufträge abzuwarten, die Mama dem Fräulein du Chatelet übertragen hatte, welche ich inzwischen fleißiger als vorher besuchte, da ich jetzt das Vergnügen hatte, mit ihr von ihrer Freundin sprechen zu können, und nicht mehr durch den qualvollen Hinblick auf meine Lage abgelenkt wurde, die ich zu verbergen gezwungen war. Fräulein du Chatelet war weder jung noch hübsch, aber gleichwohl fehlte es ihr nicht an Anmuth; sie war umgänglich und vertraulich, und ihr Geist verlieh dieser Vertraulichkeit Werth. Sie besaß jene Vorliebe für Beobachtungen, welche zum Studium der Menschen führt, und auf sie muß ich die gleiche Vorliebe bei mir zurückführen. Sie liebte die Romane von Le Sage und besonders Gil Blas; sie erzählte mir von demselben und lieh ihn mir; ich las ihn zwar mit Vergnügen, war aber für diese Art von Lectüre doch noch nicht reif; ich hatte Romane mit großen Gefühlen nöthig. So brachte ich denn meine Zeit in dem Empfangzimmer des Fräuleins du Chatelet mit eben so vielem Vergnügen wie Nutzen zu, und sicherlich sind die fesselnden und verständigen Unterhaltungen mit einer begabten Frau zur Bildung eines jungen Mannes geeigneter als alle pedantische Bücherphilosophie. In Chasottes machte ich mit andern Kostschülern und ihren Freundinnen Bekanntschaft, unter andern mit einer jungen Person von vierzehn Jahren, Namens Fräulein Serre, der
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