Rousseau's Bekenntnisse
ich damals keine große Aufmerksamkeit zollte, in die ich mich aber acht oder neun Jahr später leidenschaftlich verliebte, und mit Recht, denn sie war ein reizendes Mädchen.
Ganz von der Hoffnung erfüllt, meine gute Mama binnen Kurzem wieder zu sehen, that ich meinen Lieblingsgedanken einstweilen Einhalt, denn das wirkliche Glück, das meiner harrte, überhob mich der Mühe, es in meinen Träumen zu suchen. Ich sollte nicht allein sie wieder finden, sondern bei ihr und durch sie auch in eine angenehme Lage versetzt werden, denn sie hatte, wie sie mittheilte, eine Beschäftigung für mich gefunden, die mir hoffentlich zusagen und mich auch nicht von ihr entfernen würde. Ich erschöpfte mich in Vermuthungen, um zu errathen, worin diese Beschäftigung bestehen könnte, und man hätte wirklich lange rathen können, ehe man das Richtige getroffen hätte. Ich hatte ausreichend Geld, um den Weg bequem zurückzulegen. Fräulein du Chatelet verlangte, ich sollte ein Pferd nehmen; ich vermochte nicht auf diesen Vorschlag einzugehen, und ich hatte Recht. Ich würde sonst das Vergnügen der letzten Fußreise verloren haben, die ich in meinem Leben gemacht habe; denn ich kann den Ausflügen, die ich, so lange ich in Motiers wohnte, oft in die nächste Umgebung unternahm, diesen Namen nicht beilegen.
Es ist etwas Eigentümliches, daß sich meine Einbildungskraft nie in angenehmeren Bildern ergeht, als wenn meine Lage am wenigsten angenehm ist, und daß sie mir im Gegentheile weniger reizende Bilder vorgaukelt, sobald sich alles um mich her freundlich gestaltet. Meine aufgeregte Natur vermag sich nicht den Thatsachen zu unterwerfen. Sie wäre unfähig, zu verschönern, sie will schaffen. Die wirklichen Gegenstände stellen sich ihr höchstens so dar, wie sie sind; nur die Gebilde der Phantasie versteht sie zu schmücken. Will ich den Frühling schildern, muß es Winter sein; will ich eine schöne Landschaft beschreiben, müssen mich Mauern umfangen, und ich habe oft versichert, ich würde, sollte je die Bastille mich umschließen, dort das Gemälde der Freiheit entwerfen. Ich erblickte, als ich von Lyon abreiste, nur eine angenehme Zukunft vor mir; ich war auch zufrieden, und hatte eben so viel Grund es zu sein, wie ich bei meinem Scheiden von Paris zur Unzufriedenheit hatte. Trotzdem versank ich während dieser Reise nicht in jenes köstliche Träumen, in welchem ich auf jener einherwandelte. Ich war heiteren Herzens, aber das war alles. Mit Rührung näherte ich mich der vortrefflichen Freundin, die ich wiedersehen sollte. Ich genoß im voraus, aber ohne schwärmerische Begeisterung, die Freude, an ihrer Seite zu leben. Darauf hatte ich stets gerechnet; es war, als ob dies keinen Reiz der Neuheit für mich hätte. Ich war über die mir angedeutete Beschäftigung unruhig, als ob sie sehr beunruhigend gewesen wäre. Meine Gedanken waren ruhig und angenehm, nicht himmlisch und hinreißend. Die Gegenstände zogen meine Blicke auf sich; ich schenkte der Gegend meine Aufmerksamkeit, betrachtete die Bäume, die Häuser, die Bäche; ich überlegte an den Kreuzwegen, welches der richtige Weg wäre; ich hatte Furcht, mich zu verirren, und verirrte mich nicht. Mit einem Worte, ich schwebte nicht mehr im Himmel, sondern ich war bald da, wo ich war, bald da, wohin ich ging, und nie schweiften meine Gedanken weiter hinaus.
Beim Berichte über meine Reisen geht es mir wie beim Reisen selbst; ich weiß nicht anzukommen. Das Herz schlug mir vor Freude, als ich meiner lieben Mama näher kam, und ich ging doch nicht schneller. Ich wandere gern mit aller Gemächlichkeit und mache Halt, wenn es mir gefällt. Ein umherwanderndes Leben ist für mich Bedürfnis. Eine Fußreise bei schönem Wetter, und in einer schönen Gegend zu machen, ohne Eile zu haben und an deren Ziele meiner etwas Angenehmes wartet, ist von allen Arten zu leben am meisten nach meinem Geschmack. Uebrigens weiß man schon, was ich unter einer schönen Gegend verstehe. Nie erschien mir ein flaches Land, bei aller sonstigen Schönheit, als ein solches. Ich bedarf Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, schroffe Pfade, die eben so schwer zu erklettern wie hinabzusteigen sind, Abgründe auf beiden Seiten, die mir Angst einjagen. Diese Wonne hatte ich und empfand sie in ihrem ganzen Zauber, als ich mich Chambery näherte. Unweit einer Felsenwand, die den Namen Pas de l'Echelle führt, tief unter der in den Felsen gehauenen Landstraße, bei dem Flecken Chailles, strömt
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