Rousseau's Bekenntnisse
Augen zu überfliegen. Nach der Art und Weise, mit der ich mich aus der Sache zog, mußte sich Herr von Sennecterre zu der Annahme berechtigt fühlen, daß ich von der Musik nichts verstände. Vielleicht um sich von der Wahrheit seiner Vermuthung zu überzeugen, forderte er mich auf, die Noten eines Liedes aufzuschreiben, welches er Fräulein von Menthon überreichen wollte. Ich konnte mich dem nicht entziehen. Er sang das Lied, und ich schrieb es auf, sogar ohne es mir oft wiederholen zu lassen. Darauf las er es durch und fand, wie es auch wirklich der Fall war, daß ich es vollkommen richtig aufgeschrieben hatte. Da er meine Verlegenheit bemerkt hatte, machte es ihm Freude, diesen kleinen Erfolg in ein recht günstiges Licht zu stellen. Es war jedoch im Ganzen genommen eine sehr einfache Sache. Im Grunde verstand ich die Musik sehr gut, es fehlte mir nur die Schnelligkeit des ersten Ueberblicks, die mir bei allem abging und die man in der Musik nur durch lange Uebung erwirbt. Wie dem auch sei, ich war ihm dankbar für die redliche Mühe, die er sich gab, die kleine Beschämung, welche ich erlitten, bei den Uebrigen wie bei mir in Vergessenheit zu bringen. Als ich zwölf oder fünfzehn Jahre später in verschiedenen Häusern in Paris mit ihm zusammentraf, fühlte ich mich mehrmals versucht, ihm dieses Geschichtchen in die Erinnerung zurückzurufen und ihm zu zeigen, daß ich es im Gedächtnis bewahrt hatte. Aber er hatte seitdem das Augenlicht verloren; ich fürchtete, ihn von neuem mit Schmerz zu erfüllen, wenn ich ihn an den Gebrauch erinnerte, den er von demselben gemacht hatte, und schwieg.
Ich nähere mich jetzt dem Zeitabschnitte, der meine vergangene gesellschaftliche Stellung mit meiner gegenwärtigen in Verbindung setzt. Einige Freundschaften, die sich seit jener Zeit bis jetzt fortgesetzt haben, sind mir sehr werth geworden. Um ihretwillen habe ich mich oft nach jener glücklichen Niedrigkeit zurückgesehnt, in welcher diejenigen, die sich meine Freunde nannten, es meinetwegen waren und mich meinetwegen liebten, aus reinem Wohlwollen, nicht aus Eitelkeit, mit einem bekannten Manne in Verbindung zu stehen, oder aus dem geheimen Verlangen, auf diese Weise mehr Gelegenheit zu finden, ihm zu schaden. Von hier an rechne ich meine erste Bekanntschaft mit meinem alten Freunde Gauffecourt, der mir aller Anstrengungen ungeachtet, die man machte, ihn mir zu rauben, stets ein treuer Freund geblieben ist. Stets geblieben ist? Ach nein, ich habe ihn vor Kurzem verloren. Aber erst mit dem Erlöschen seines Lebens erlosch seine Liebe zu mir, und unsere Freundschaft hat erst mit ihm selber geendet. Herr von Gauffecourt war einer der liebenswürdigsten Männer, die es je gegeben hat. Es war unmöglich ihn zu sehen, ohne ihn zu lieben, und mit ihm zu leben, ohne sich ihm völlig anzuschließen. Ich habe nie offnere, gefälligere Gesichtszüge gesehen, die mehr Heiterkeit, mehr Gefühl und Geist verrathen, mehr Vertrauen eingeflößt hätten. Wie zurückhaltend man auch sein mochte, so konnte man sich doch von dem ersten Zusammentreffen an nicht erwehren, mit ihm so vertraulich zu verkehren, als hätte man ihn schon zwanzig Jahre gekannt, und ich, dem es so schwer fiel neuen Gesichtern gegenüber meine Unbefangenheit zu bewahren, war bei ihm vom ersten Augenblicke an heiter und ungezwungen. Seine Stimme, seine Aussprache, seine Aeußerungen machten einen eben so angenehmen Eindruck wie seine Züge. Der Ton seiner Stimme war rein, klangvoll, wohltönend, ein schöner, kräftiger und umfangreicher Baß, der das Ohr erfüllte und zum Herzen drang. Es ist unmöglich eine gleichmäßigere und angenehmere Heiterkeit zu haben, eine unverfälschtere und einfachere Anmuth, natürlichere und mit größerem Geschmack ausgebildete Talente. Hierzu denke man sich noch ein liebendes Herz, welches alle Welt nur ein wenig zu sehr liebte, einen gegen alle ohne Ausnahme gefälligen Charakter, der ihn antrieb, seinen Freunden eifrig zu dienen, oder bei dem er sich vielmehr abmühte, sich aus Leuten, welchen er dienen konnte, Freunde zu machen, und es sehr geschickt verstand, sein Glück dabei zu finden, daß er für das Glück anderer sorgte. Gauffecourt war der Sohn eines einfachen Uhrmachers und war selbst Uhrmacher gewesen. Aber sein Aeußeres und seine Befähigung beriefen ihn in einen anderen Kreis, in den er nicht einzutreten verabsäumte. Er machte die Bekanntschaft des Herrn von La Closure, des französischen Gesandten in Genf, der
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