Rousseau's Bekenntnisse
zu der Kunst der Aerzte, aber ein großes zu der der wahren Freunde. Das, wovon unser Glück abhängt, geschieht stets weit besser als alles andere. Giebt es im Leben ein köstliches Gefühl, so ist es das, welches wir empfanden, einander wiedergegeben zu sein. Unsere gegenseitige Anhänglichkeit nahm dadurch nicht zu, das war nicht möglich, aber sie nahm etwas, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, etwas noch Vertraulicheres, etwas in ihrer Einfachheit noch Rührenderes an. Ich wurde völlig ihr Werk, völlig ihr Kind, und mehr, als wenn sie meine wahre Mutter gewesen wäre. Wir fingen unbewußt an, uns nicht mehr von einander zu trennen, gewissermaßen unser ganzes Dasein als etwas zu einander Gehöriges zu betrachten, und fühlend, daß wir uns gegenseitig nicht allein nothwendig, sondern auch genügend wären, gewöhnten wir uns daran, an nichts außer uns Liegendes mehr zu denken, unser Glück und unsere Wünsche gänzlich auf diesen gegenseitigen und vielleicht unter den Sterblichen einzigen Besitz zu beschränken, der, wie gesagt, nicht der der Liebe, sondern ein weit zuverlässigerer Besitz war, der, ohne auf der Sinnlichkeit, dem Geschlecht und der Gestalt zu beruhen, das ganze Wesen umfaßte, und den man nur verlieren kann, wenn man aufhört zu sein.
Woran lag es, daß diese glückliche Wendung nicht ihr wie mein Glück für immer herbeiführte? Nicht an mir, dieses tröstliche Zeugnis kann ich mir geben; und eben so wenig trug sie die Schuld, wenigstens nicht mit Willen. Es stand geschrieben, daß die nicht zu überwindende Natur bald wieder ihre Herrschaft einnehmen sollte. Aber dieser unselige Rückschlag trat nicht plötzlich ein. Dank dem Himmel blieb eine Zwischenzeit, eine kurze, aber köstliche Zwischenzeit, die nicht durch meine Schuld ein Ende nahm, und die ich, wie ich mir mit gutem Gewissen nachsagen kann, nach bestem Vermögen ausgenutzt habe.
Obgleich von meiner schweren Krankheit genesen, hatte ich meine alte Lebenskraft doch nicht wiedergewonnen. Meine Brust war noch nicht wieder hergestellt; ein Ueberbleibsel des Fiebers hielt noch immer an und ermattete mich. Mein ganzes Sinnen war nur darauf gerichtet, mein Leben an der Seite der Frau zu beschließen, die mir theuer war, sie in ihren guten Entschlüssen zu erhalten, ihr begreiflich zu machen, worin der wahre Reiz eines glücklichen Lebens bestände und ihr Leben, so weit es von mir abhinge, in ein solches zu verwandeln. Aber ich sah ein, ich fühlte es sogar, daß die beständige Einsamkeit eines nur auf uns beide beschränkten Beisammenseins in einem düstern und langweiligen Hause schließlich auch langweilig werden würde. Wie von selbst zeigte sich ein Gegenmittel dawider. Mama hatte mir Milch verordnet und verlangte, ich sollte auf dem Lande eine förmliche Milchkur durchmachen. Ich willigte unter der Bedingung ein, daß sie mit mir auf das Land zöge. Mehr bedurfte es nicht, um sie dafür zu gewinnen; es handelte sich nur noch um die Wahl des Ortes. Der Garten in der Vorstadt gewährte nicht die Genüsse des Landlebens; von Häusern und andern Gärten umgeben, hatte er nicht den Reiz einer ländlichen Zurückgezogenheit. Nach Anets Tode hatten wir übrigens den Garten aus Gründen der Sparsamkeit wieder abgetreten, da wir uns nicht mehr mit der Zucht von Pflanzen beschäftigen wollten, und uns andere Absichten diesen Zufluchtsort nicht mehr begehrenswerth machten.
Indem ich nun den Widerwillen, den ich bei ihr gegen die Stadt fand, benutzte, schlug ich ihr vor, dieselbe ganz zu verlassen und uns in einer freundlichen, aber einsamen Gegend ansässig zu machen, in irgend einem Häuschen, welches durch seine Entfernung Hoffnung erweckte, lästige Besucher fern zu halten. Sie hätte es gethan, und dieser Entschluß, den ihr und mein guter Engel mir eingab, hätte uns wahrscheinlich glückliche und ruhige Tage bis zu dem Augenblicke gesichert, wo der Tod uns scheiden mußte. Aber eine solche Lebenslage war uns nicht beschieden. Mama sollte, nachdem sie ihr Leben in Ueberfluß zugebracht hatte, alle Sorgen der Armuth und des Elends durchmachen, um diese Welt mit weniger Schmerz verlassen zu können; und ich sollte eine Reihe von Leiden aller Art Über mich ergehen lassen, um dermaleinst jedem als Beispiel zu dienen, der aus reiner Liebe für das allgemeine Wohl und aus Gerechtigkeitssinn den Muth hat, den Menschen im Bewußtsein seiner Unschuld offen die Wahrheit zu sagen, ohne sich auf eine Partei zu stützen, ohne sich
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