Rousseau's Bekenntnisse
ohne daß ich im Stande wäre einen andern Grund meines Glückes anzugeben, als dieses Gefühl selbst. Ich stand mit der Sonne auf und war glücklich; ich ging spazieren und war glücklich; ich sah Mama und war glücklich; ich verließ sie und war glücklich; ich durchstreifte die Waldungen und Berge, ich durchirrte die Thäler; ich las, ich war müßig, ich arbeitete im Garten, ich pflückte das Obst, ich half in der Wirtschaft und überall hin folgte mir das Glück; es war nicht in irgend etwas greifbar und nachweisbar, es lag völlig in mir selber, es konnte mich nicht einen einzigen Augenblick verlassen.
Nichts von allem, was mir in diesem süßen Lebensabschnitt begegnet ist, nichts von dem, was ich während dieser ganzen Zeit gethan, gesagt und gedacht habe, ist meinem Gedächtnisse entfallen. Der vorhergehenden wie der späteren Zeiten erinnere ich mich nur bruchstückweise; ich entsinne mich ihrer nur ungleichmäßig und verworren, aber jener entsinne ich mich so vollkommen, als ob ich noch mitten in ihr lebte. Meine Einbildungskraft, welche in meiner Jugend immer vorwärts eilte und jetzt nur rückwärts blickt, ersetzt mir durch diese lieblichen Erinnerungen die Hoffnung, die ich für ewig verloren habe. Ich sehe in der Zukunft nichts mehr, das mich anlockt; nur die Rückblicke in die Vergangenheit erfüllen mich mit Freude, und diese Rückblicke in den Zeitabschnitt, von dem ich rede, sind so lebendig und wahrheitsgetreu, daß sie mich oft mitten in meinen Leiden ein reines Glück genießen lassen.
Ich will von diesen Erinnerungen ein einziges Beispiel anführen, aus dem man auf ihre Lebhaftigkeit und Stärke wird schließen können. Am ersten Tage, an welchem wir uns nach Charmettes begaben, um daselbst zu schlafen, ließ sich Mama in einer Sänfte tragen, und ich ging hinterher. Der Weg steigt; sie war ziemlich schwer und, da sie die Träger allzu sehr zu ermüden fürchtete, wollte sie ungefähr auf dem halben Wege aussteigen und den Rest zu Fuß zurücklegen. Beim Wandern sah sie etwas Blaues in der Hecke und sagte zu mir: »Da ist noch Wintergrün in voller Blüte.« Ich hatte nie Wintergrün gesehen; ich neigte mich nicht hinab, es zu betrachten, und bin zu kurzsichtig, um bei meiner Größe die Pflanzen auf der Erde zu unterscheiden. Ich warf nur im Vorübergehen einen Blick auf das Wintergrün, und fast dreißig Jahre sind seitdem vergangen, ohne daß ich es seitdem wiedergesehen, oder ihm Beachtung geschenkt habe. Als ich nun im Jahre 1764 meinem Freunde Du Peyrou in Cressier einen Besuch abstattete, erstiegen wir einen kleinen Berg, auf dessen Gipfel er einen niedlichen Saal erbaut hat, den er mit Recht Belle-Vue nennt. Ich fing damals gerade an, ein wenig zu botanisiren. Während ich nun durch das Gesträuch aufwärts klettre und umherblicke, rufe ich plötzlich aus: »Ach, da ist Wintergrün:« und das war es in der That. Du Peyrou, der mein Entzücken bemerkte, konnte sich schwerlich die Ursache denken. Er wird sie nun erfahren, wenn er, wie ich hoffe, dies lesen wird. Der Leser kann aus dem Eindrucke, den ein so unbedeutender Gegenstand auf mich ausübte, auf den schließen, welchen alles, was sich auf jene Zeit bezieht, auf mich machte.
Die Landluft gab mir indessen meine Gesundheit nicht wieder. Ich siechte nur immer mehr dahin. Ich konnte die Milch nicht vertragen und mußte ihrem Genusse entsagen. Damals war die Wasserkur in die Mode gekommen; ich warf mich also auf das Wasser und in so unbesonnener Weise, daß mit meinen Leiden auch beinahe noch mein Leben ein Ende genommen hätte. Jeden Morgen, nachdem ich aufgestanden war, ging ich mit einem Becher zur Quelle und trank, dabei umherwandelnd, nach und nach gewiß zwei ganze Flaschen. Dem Tischwein entsagte ich ganz und gar. Das Wasser, welches ich trank, war wie die meisten Gebirgswasser hart und schwer verdaulich. Kurz, ich stellte es so gut an, daß ich mir in weniger als zwei Monaten den Magen vollständig verdarb, der bis dahin sehr gut gewesen war. Da ich nichts mehr verdauen konnte, sah ich ein, daß ich auf Heilung nicht länger rechnen durfte. In der nämlichen Zeit trat bei mir eine Erscheinung ein, die an und für sich wie durch die Folgen, die nur mit meinem Tode aufhören werden, höchst sonderbar vor.
Eines Morgens, als ich mich nicht unwohler als gewöhnlich befand und eben eine kleine Tischplatte auf ihr Fußgestell legte, fühlte ich in meinem ganzen Körper eine plötzliche und fast unbegreifliche Veränderung. Ich
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