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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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kann sie nicht besser als mit einer Art Sturm vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und sich in einem Augenblicke über alle meine Glieder verbreitete. Meine Adern begannen mit einer solchen Gewalt zu schlagen, daß ich ihr Pochen nicht allein fühlte, sondern auch hörte und namentlich das Klopfen in den Kopfarterien. Dazu gesellte sich ein starkes Ohrensausen, und in ihm ließ sich etwas Dreifaches oder Vierfaches unterscheiden, nämlich ein tiefes und dumpfes Brausen, ein Murmeln, heller wie von rieselndem Wasser, ein sehr scharfes Pfeifen und das eben erwähnte Herzklopfen, dessen Schläge ich leicht zählen konnte, ohne erst meinen Puls zu fühlen oder meinen Körper mit den Händen zu berühren. Dieser lärmende Aufruhr in meinem Innern war so gewaltig, daß er mir die frühere Feinheit des Gehörs raubte und mich zwar nicht taub, aber doch harthörig machte, wie ich es seitdem geblieben bin.
    Man kann sich meine Ueberraschung und meinen Schrecken vorstellen, ich hielt mich für dem Tode nah und legte mich zu Bett; der Arzt wurde geholt, ich erzählte ihm zitternd mein Leiden, das mir unheilbar schien. Ich glaube, er theilte meine Ansicht, aber er that, was sein Beruf mit sich brachte. Er hielt mir lange Vorträge, von denen ich keine Silbe verstand, darauf begann er zufolge seiner erhabenen Theorie die Experimentalkur in anima vili, die es ihm an mir zu versuchen einfiel. Sie war so schmerzhaft, so widerlich und hatte so wenig Erfolg, daß ich ihrer bald müde wurde, und als ich nach Verlauf einiger Wochen bemerkte, daß ich mich nicht besser und nicht schlechter befand, verließ ich das Bett und nahm meine gewöhnliche Lebensweise trotz dem Schlagen meiner Arterien und meines Ohrensausens wieder auf, das mich von da an, das heißt seit dreißig Jahren, nicht eine Minute verlassen hat.
    Bis dahin war ich sehr verschlafen gewesen. Die vollkommene Schlaflosigkeit, welche alle diese Krankheitserscheinungen begleitete und sie bis jetzt beständig begleitet hat, bestärkte mich vollends in der Ueberzeugung, daß mir nur noch wenig Zeit zu leben blieb. Diese Ueberzeugung beruhigte mich auf einige Zeit über die Sorge für meine Genesung. Da ich mein Leben nicht verlängern konnte, beschloß ich die kurze Lebenszeit, die mir noch vergönnt war, bestmöglichst auszukaufen, und das ermöglichte mir eine besondere Begünstigung der Natur, die mich in einem so traurigen Zustande mit den Schmerzen verschonte, die er dem Anscheine nach hätte hervorrufen müssen. Ich war von dem ewigen Sausen belästigt, litt aber nicht darunter; es war mit keiner andern bleibenden Unbequemlichkeit verbunden als des Nachts mit Schlaflosigkeit und mit einem stets kurzen Athem, der aber nicht bis zum Asthma ausartete und sich nur fühlbar machte, wenn ich laufen oder eine angestrengte Arbeit verrichten wollte.
    Das Leiden, das meinem Körper hätte tödtlich werden müssen, tödtete nur meine Leidenschaften, und wegen der glücklichen Wirkungen, die es auf meine Seele ausübte, segne ich den Himmel jeden Tag dafür. Ich kann wohl sagen, daß ich erst zu leben anfing, als ich mich als einen todten Mann betrachtete. Indem ich den Dingen, von denen ich scheiden sollte, ihren wahren Werth zuerkannte, begann ich mich mit edleren Pflichten zu beschäftigen, mich gleichsam schon im voraus denen überlassend, die ich nun bald zu erfüllen haben würde, und die ich bis dahin arg vernachlässigt hatte. Ich hatte mir die Religion oft nach meiner Weise ausgelegt, war aber nie ganz ohne Religion gewesen. Deshalb fiel es mir weniger schwer auf diesen, für so viele Leute abstoßenden, Gegenstand zurückzukommen, der aber für alle, denen er eine Quelle des Trostes und der Hoffnung bildet, so süß ist. Bei dieser Gelegenheit war mir Mama weit nützlicher, als es mir alle Theologen gewesen wären.
    Da sie alles in ein System brachte, hatte sie nicht ermangelt, es mit der Religion eben so zu machen, und dieses System war aus sehr ungleichartigen, einerseits sehr vernünftigen, andrerseits aber auch sehr thörichten Vorstellungen, aus Gefühlen, die ihrem Charakter entsprachen und aus Vorurtheilen zusammengesetzt, die ein Ergebnis ihrer Erziehung waren. Die Gläubigen denken sich Gott im allgemeinen, wie sie selber sind, die Guten gut, die Bösen böse; Fromme von gehässigem und galligem Charakter sehen nur die Hölle, weil sie die ganze Welt verdammen möchten; liebende und sanfte Seelen glauben kaum an sie, und ich habe mich nie von der Verwunderung

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