Rousseau's Bekenntnisse
Aufnahme ich ihr nicht auch noch zumuthen wollte, und von dem ich mich, wie ich besorgte, nicht so leicht frei machen konnte. Ich bereitete diese Trennung dadurch vor, daß ich am letzten Tage ziemlich kalt gegen ihn war. Der Schalk durchschaute mich; er war mehr närrisch als dumm. Ich glaubte, meine Unbeständigkeit würde ihm nahe gehen; ich hatte Unrecht, meinem lieben Bâcle ging nichts nahe. Kaum hatten wir bei unserer Ankunft in Annecy den Fuß in die Stadt gesetzt, als er zu mir sagte: »Da wärest du ja zu Hause,« mich umarmte, mir Lebewohl sagte, sich umdrehte und verschwand. Ich habe von ihm nie wieder etwas gehört. Unsere Bekanntschaft und Freundschaft währten im Ganzen ungefähr sechs Wochen, aber die Folgen derselben werden erst mit mir enden.
Wie mir das Herz schlug, als ich mich dem Hause der Frau von Warens näherte? Die Füße schwankten unter mir, die Augen waren mir wie verschleiert; ich sah nichts und hörte nichts; ich hätte niemanden wiedererkannt; ich mußte mehrere Male stehen bleiben, um aufzuathmen und mich erst zu fassen. War dies Furcht, nicht die Hilfe zu erlangen, deren ich bedurfte, was mich in so hohem Grade aufregte? Flößt in dem Alter, in welchem ich mich befand, die Furcht, Hungers zu sterben, solche Unruhe ein? Nein, nein, ich sage es mit eben so viel Wahrheit wie Stolz: in keinem Augenblicke meines Lebens ist je mein eigenes Wohl oder die Noth, die an mich herantrat, im Stande gewesen mein Herz freudiger zu stimmen oder zusammenzupressen. Im Laufe eines sich verschiedenartig gestaltenden und durch seine Wechselfälle merkwürdigen Lebens, häufig ohne Unterkommen und ohne Brot, habe ich Ueberfluß wie höchste Noth stets mit gleichem Auge betrachtet. Im Nothfalle wäre ich fähig gewesen, zu betteln oder zu stehlen wie jeder Andere, aber ohne es je zur Gewohnheit werden zu lassen. Wenige Menschen haben so viel geseufzt wie ich, wenige in ihrem Leben so viele Thränen vergossen; aber weder Armuth noch Furcht, in dieselbe zu gerathen, haben mir je einen Seufzer oder eine Thräne zu entlocken vermocht. Gegen Schicksalsschläge abgehärtet, hat meine Seele nur die Güter und die Leiden für wahr erkannt, die nicht vom äußeren Geschicke abhängen; und gerade wenn ich mit allem Unentbehrlichen reichlich versehen war, hatte ich das Gefühl, als wäre ich der Unglücklichste der Sterblichen.
Kaum zeigte ich mich den Augen der Frau von Warens, als ihre Miene mich sofort beruhigte. Ich erbebe beim ersten Tone ihrer Stimme, stürze mich ihr zu Füßen und drücke im Entzücken der lebhaftesten Freude meinen Mund auf ihre Hand. Ich weiß nicht, ob sie bereits über mich benachrichtigt war, doch drückte sich wenig Ueberraschung und noch weniger Verdruß in ihren Zügen aus. »Armer Kleiner,« sagte sie in liebkosendem Tone zu mir, »so bist du also wieder da. Ich wußte wohl, daß du für eine derartige Reise zu jung warst; ich bin recht zufrieden, daß sie nicht einen so üblen Ausgang genommen, wie ich befürchtet hatte.« Darauf mußte ich ihr meine Geschichte erzählen, die nicht lang, aber vollkommen wahrheitsgemäß war; überging ich auch einige Punkte, so schonte ich im Uebrigen weder meiner noch entschuldigte ich mich.
Nun wurde besprochen, wo ich schlafen sollte. Sie zog ihr Kammermädchen zu Rathe. Während dieser Berathung wagte ich nicht zu athmen; aber als ich vernahm, daß ich im Hause schlafen sollte, hatte ich Mühe mich zu beherrschen, und ich sah, wie man mein kleines Packet in das mir bestimmte Zimmer trug, ungefähr mit derselben Empfindung, mit welcher Saint-Preux bei Frau von Wolmar seinen Wagen in die Remise schieben sah. Und außerdem hatte ich noch die Freude zu hören, daß diese Gunst nicht vorübergehend sein sollte, und in einem Augenblick, wo man mich von etwas ganz Anderem völlig in Anspruch genommen wähnte, hörte ich sie sagen: »Man möge sagen, was man will, aber da ihn mir die Vorsehung zurückschickt, bin ich entschlossen, ihn nicht zu verlassen.«
So war ich bei ihr denn endlich für immer aufgenommen. Allerdings war diese Aufnahme noch nicht diejenige, von der an ich die glücklichen Tage meines Lebens zähle, aber sie diente doch zu ihrer Vorbereitung. Wenngleich die Empfindungsfähigkeit des Herzens, die uns erst in Wahrheit die rechte Freude an unserm eigenen Dasein gewährt, eine Mitgift der Natur und vielleicht ein Erzeugnis der Organisation ist, so bedarf sie doch Lebenslagen, welche sie entwickeln. Ohne solche sich gelegentlich
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