Rousseau's Bekenntnisse
man auf diesen langen Wirrwar ein hinreißendes Schauspiel folgen sieht. Ungefähr ein ähnlicher Vorgang findet in meinem Kopfe statt, sobald ich schreiben will. Wäre ich im Stande gewesen, erst zu warten und die Dinge dann in der Schönheit wiederzugeben, in der sie sich mir dargestellt haben, dann würden mich wenige Schriftsteller übertroffen haben.
Daraus entspringt die ungemeine Schwierigkeit für mich zu schreiben. Meine durchstrichenen, hingesudelten, mit vielen Einschaltungen versehenen, kaum lesbaren Schreibereien bezeugen die Mühe, die sie mir gekostet haben. Es ist nicht eine einzige unter ihnen, die ich nicht hätte vier- oder fünfmal abschreiben müssen, ehe ich sie zum Druck befördern konnte. Ich habe mit der Feder in der Hand, mein Papier auf dem Tische vor mir, nie etwas aufzusetzen vermocht. Auf Spaziergängen, zwischen Felsen und in Wäldern, Nachts, wenn ich schlaflos im Bette liege, da schreibe ich im Kopfe, man kann sich vorstellen mit welcher Langsamkeit, zumal bei einem Menschen, dem es an allem Wortgedächtnisse gebricht und der in seinem ganzen Leben nicht sechs Verse hat auswendig behalten können. Es giebt Perioden in meinen Schriften, die ich fünf oder sechs Nächte lang in meinem Kopfe hin und her gewendet habe, ehe sie so gefeilt waren, daß sie zu Papier gebracht werden konnten. Daher kommt es auch, daß mir Werke, die Arbeit verlangen, besser gelingen, als solche, die mit einer gewissen Leichtigkeit, ähnlich wie Briefe, abgefaßt werden wollen, eine Gattung, deren Ton ich nie habe treffen können und die mir deshalb Qual bereitet, so oft ich mich mit ihr beschäftigen muß. Auch über die geringfügigsten Angelegenheiten schreibe ich keine Briefe, die mir nicht stundenlange Anstrengungen kosten, und wenn ich sofort niederschreiben will, was mir vorkommt, so weiß ich weder Anfang noch Ende; mein Brief wird dann ein langer und verworrener Wortschwall; man versteht mich kaum, wenn man ihn liest.
Es wird mir nicht allein sauer, die Gedanken wiederzugeben, es wird mir sogar sauer, sie zu fassen. Ich habe die Menschen studirt und halte mich für einen ziemlich guten Beobachter; allein ich bin unfähig, von dem, was ich sehe, etwas einzusehen; ich sehe nur das ein, dessen ich mich erinnere, und nur in meinen Erinnerungen bin ich klug. Von allem, was man in meiner Gegenwart sagt, in meiner Gegenwart thut, in meiner Gegenwart sich ereignet, merke ich nichts, durchschaue ich nichts. Nur das rein Aeußerliche tritt vor mein Auge. Aber später fällt mir alles wieder ein; ich entsinne mich des Ortes, der Zeit, des Tones, der Blicke, der Geberde, kurz jedes Umstandes; nichts entgeht mir. Und aus dem, was man gethan oder gesagt, finde ich dann heraus, was man dabei gedacht hat, und ich täusche mich darin selten.
Wenn ich nun allein mit mir selbst so wenig Herr meiner Geisteskräfte bin, so möge man sich vorstellen, was ich in der Unterhaltung sein muß, wo man, um schlagfertig zu reden, gleichzeitig und auf der Stelle an tausend Dinge denken muß. Der blose Gedanke an die vielen Rücksichten, die ich zu nehmen habe und von denen ich wenigstens eine außer Acht zu lassen sicher bin, genügt, um mich einzuschüchtern. Ich begreife nicht einmal, wie man den Muth haben kann, in einer Gesellschaft zu reden, denn bei jedem Worte müßte man alle Anwesende im Auge haben, müßte man den Charakter und die Lebensgeschichte jedes Einzelnen kennen, um sicher zu sein, daß man nichts sagt, wodurch man einen von ihnen verletzen könnte. Hierin haben die, welche in der Welt leben, einen großen Vortheil; da sie besser wissen, worüber man schweigen muß, sind sie dessen, was sie sagen, sicherer, und nichts desto weniger entschlüpfen auch ihnen nicht selten Dummheiten. Was wird nun der erst für Unheil stiften, der in einen solchen Kreis wie aus den Wolken hineinfällt! Es ist ihm fast unmöglich, auch nur eine Minute lang ungestraft zu reden. Ein Gespräch unter vier Augen ist mit einem andern Uebelstande verbunden, der mir noch schlimmer vorkommt, nämlich mit der Notwendigkeit, fortwährend zu reden. Wenn man mit euch spricht, müßt ihr antworten, und wenn man verstummt, müßt ihr die Unterhaltung wieder aufnehmen. Dieser unerträgliche Zwang wäre allein hinreichend gewesen, mir das Gesellschaftsleben völlig zu verleiden. Ich finde keinen Zwang schrecklicher als die Verpflichtung, augenblicklich und fortwährend zu reden. Ich weiß nicht, ob dies mit meinem tödtlichen Widerwillen gegen jede
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