Rousseau's Bekenntnisse
eingereicht, der abgelehnt worden war. Er beabsichtigte ihn nun dem Turiner Hofe anzubieten, wo er auch angenommen und ausgeführt wurde. Er hielt sich einige Zeit zu Annecy auf und verliebte sich daselbst in die Frau Intendantin, eine sehr liebenswürdige Person, die mir sehr gefiel und die einzige war, die ich gern bei Mama sah. Herr von Aubonne lernte mich kennen; seine Verwandte sprach mit ihm von mir; er übernahm, mich zu prüfen, sich zu überzeugen, wozu ich geeignet wäre, und mir, wenn er sähe, daß ich etwas los hätte, eine Stelle zu verschaffen.
Frau von Warens schickte mich zwei oder drei Morgen hinter einander, unter einem beliebigen Vorwande und ohne ihre Absicht durchblicken zu lassen, zu ihm. Er fing es sehr geschickt an, mich zum Plaudern zu bringen, that sehr vertraulich mit mir, munterte mich, so viel als möglich auf, sprach mit mir von verschiedenen unbedeutenden Dingen und allerlei Gegenständen, und das alles ohne mich scheinbar zu beobachten, ohne etwas Gesuchtes, als ob er Gefallen an mir fände und sich mit mir zwanglos hätte unterhalten wollen. Ich war von ihm bezaubert. Das Ergebnis seiner Beobachtungen war, daß ich, so viel mein Aeußeres und meine lebhaften Züge auch versprächen, wenn nicht völlig unfähig, wenigstens ein Knabe von wenig Geist, ohne Begriffe, beinahe ohne Kenntnisse, mit einem Worte in jeder Beziehung höchst beschränkt wäre, und daß die Ehre, dereinst Landpfarrer zu werden, das höchste Glück wäre, nach dem ich streben dürfte. In dieser Weise sprach er sich gegen Frau von Warens über mich aus. Zum zweiten oder dritten Male wurde ich so beurtheilt; es war noch nicht das letzte Mal, und das Urtheil des Herrn Masseron ist oft bestätigt worden.
Die Ursache dieser Urtheile hängt zu nahe mit meinem Charakter zusammen, um hier nicht einer Erklärung zu bedürfen, denn offen gesagt merkt man wohl, daß ich sie nicht mit völliger Ueberzeugung unterschreibe, und daß ich, was auch immer die Herren Masseron, von Aubonne und viele Andere gesagt haben können, doch bei aller möglichen Unparteilichkeit nicht auf ihre Worte schwören möchte.
Zwei sonst fast unvereinbare Dinge verbinden sich in mir in einer mir unbegreiflichen Weise: ein sehr feuriges Temperament, lebhafte heftige Leidenschaften und eine langsame Entwickelung der Gedanken, die sich unklar und nie im richtigen Augenblicke einstellen. Man sollte meinen, daß mein Herz und mein Geist nicht einem und demselben Wesen angehörten. Schneller als der Blitz erfüllt das Gefühl meine Seele, aber anstatt mir Klarheit zu verschaffen, entflammt und blendet es mich. Ich fühle alles und begreife nichts. Ich bin leidenschaftlich erregt, aber albern; zum Denken habe ich kaltes Blut nöthig. Erstaunlich ist dabei, daß ich dennoch ziemlich sichern Tact, Scharfsinn, sogar Schlauheit habe, gönnt man mir nur Zeit; wenn ich mich vorbereiten darf, mache ich ganz treffliche Gedichte, aber auf der Stelle habe ich nie eines fertig gebracht oder etwas gesagt, was einigen Werth hätte. Brieflich würde ich eine ganz witzige Unterhaltung führen, wie ja auch die Spanier in gleicher Weise Schach spielen sollen. Als ich von einem Herzoge von Savoyen die Anekdote las, er hätte sich auf einer Reise umgewendet, um zu rufen: »Mögest du dir den Hals brechen, Pariser Krämer!« sagte ich zu mir: »Gerade so wie ich selbst!«
Diese Langsamkeit des Denkens im Verein mit dieser Lebhaftigkeit des Gefühls macht sich bei mir nicht nur in der Unterhaltung geltend, sondern auch wenn ich allein bin und bei der Arbeit. Mit der unglaublichsten Schwierigkeit ordnen sich meine Gedanken im Kopfe. Sie laufen in ihm planlos umher und fangen an zu gähnen, bis ich in Aufregung gerathe, mich erhitze und Herzklopfen bekomme, und inmitten dieser Erregung sehe ich nichts deutlich, wäre ich unfähig ein einziges Wort zu schreiben; ich muß warten. Allmählich läßt diese große Erregung nach, das Chaos entwirrt sich, jedes Ding beginnt seine richtige Stelle einzunehmen, aber langsam und nach einer langen und verlegenen Unruhe. Habt ihr nicht hin und wieder in Italien die Oper besucht? Bei dem Scenenwechsel herrscht auf diesen großen Bühnen eine unangenehme und ziemlich lange anhaltende Verwirrung; alle Decorationen liegen bunt durcheinander, man gewahrt auf allen Seiten ein peinlich berührendes Hin- und Herziehen; man glaubt, alles müßte zusammenstürzen; allein nach und nach ordnet sich alles, nichts fehlt, und man ist ganz erstaunt, wenn
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