Rousseau's Bekenntnisse
versetzen oder in ihm erhalten konnte. Vor wie vielen Verirrungen würde man die Vernunft bewahren, wie viele Laster in ihrem Aufkeimen ersticken, wenn man den leiblichen Organismus zu zwingen verstände, der moralischen Ordnung, welche er so oft hemmt, zu Hilfe zu kommen! Das Klima, die Jahreszeiten, die Töne, die Farben, die Dunkelheit, das Licht, die Elemente, die Nahrungsmittel, das Geräusch, die Stille, die Bewegung, die Ruhe, alles wirkt auf unsere Organe und folglich auch auf unsere Seele ein; alles gewährt uns tausend fast sichere Mittel, um die Gefühle, von denen wir uns beherrschen lassen, in ihrem Entstehen zu leiten. Das war die Grundidee, die ich schon in einem flüchtigen Entwurfe schriftlich auszuarbeiten begonnen hatte, und von der ich mir für gut geartete Menschen, die trotz aufrichtiger Liebe zur Tugend voller Mißtrauen gegen ihre Schwäche sind, eine um so sicherere Wirkung versprach, als es mir leicht vorkam, darüber ein Buch zu liefern, das eben so angenehm zu lesen wie zu schreiben war. An diesem Werke, welches den Titel »Die sensitive Moral oder der Materialismus des Weisen« führte, habe ich indessen sehr wenig gearbeitet. Zerstreuungen, deren Ursache man bald erfahren wird, hielten mich von der Beschäftigung damit zurück, und man wird eben so hören, welches das Loos meines Entwurfes war, das mit dem meinen in näherem Zusammenhange steht, als es den Anschein hat.
Außerdem dachte ich seit einiger Zeit über ein Erziehungssystem nach, mit dem Frau von Chenonceaux, der das von ihrem Manne gegen ihren Sohn angewandte Entsetzen einflößte, mich gebeten hatte, mich zu beschäftigen. Die Macht der Freundschaft hatte zur Folge, daß mir dieser Gegenstand, obgleich er mir an sich weniger angenehm war, doch mehr am Herzen lag als alle andere. Auch ist dieses das einzige von allen so eben erwähnten Themata, das ich wirklich ausgeführt habe. Der Zweck, den ich mir bei Bearbeitung dieses Stoffes vorgenommen, hätte dem Verfasser, wie nur scheint, ein anderes Loos zu bereiten verdient. Greifen wir jedoch diesem traurigen Gegenstande nicht vor. Ich werde im Verlaufe dieser Schrift nur allzu sehr gezwungen sein, davon zu reden.
Alle diese verschiedenen Pläne boten mir Stoff zu Ueberlegungen auf meinen Spaziergängen dar, denn ich kann, wie ich schon gesagt zu haben glaube, nur im Gehen denken; sobald ich Halt mache, ist es mit dem Denken vorbei, und mein Kopf hält nur mit meinen Füßen Schritt. Ich hatte jedoch die Vorsicht gehabt, mich auch für die Regentage mit einer Zimmerarbeit zu versehen. Dies war mein Wörterbuch der Musik, dessen zerstreute, unvollständige, noch nicht gefeilte Materialien eine fast neue Bearbeitung des Werkes nöthig machten. Einige Bücher, deren ich zu diesem Zwecke bedurfte, brachte ich mit; zwei Monate lang hatte ich Auszüge aus vielen andern angefertigt, die man mir auf der königlichen Bibliothek lieh und von denen man mir sogar einige mit auf die Eremitage hinauszunehmen gestattet hatte. Dies waren meine Schätze, um, wenn mir die Witterung nicht auszugehen erlaubte und ich des Abschreibens überdrüssig war, zu Hause meine Sammlungen zu vervollständigen. Diese Einrichtung sagte mir so zu, daß ich ihr sowohl in der Eremitage wie in Montmorency treu blieb und später sogar in Motiers, wo ich diese Arbeit vollendete, während ich mich zugleich mit andern beschäftigte und stets fand, daß ein Wechsel in der Thätigkeit eine wahre Kräftigung ist.
Einige Zeit befolgte ich ziemlich genau die Eintheilung, die ich mir gemacht hatte, und ich befand mich dabei recht wohl; als aber die schöne Jahreszeit Frau von Epinay häufiger nach Epinay oder auf die Chevrette führte, erkannte ich, daß Aufmerksamkeiten, die mir zwar für den Augenblick nicht schwer fielen, aber von mir doch nicht mit berechnet waren, der Ausführung meiner anderen Pläne sehr hinderlich waren. Frau von Epinay besaß, wie bereits erwähnt, sehr liebenswürdige Eigenschaften; sie war ihren Freunden sehr zugethan, diente ihnen mit großem Eifer und war, da sie es für sie weder an Zeit noch Freundlichkeiten fehlen ließ, sicherlich werth, daß sie ihr Gegendienste leisteten. Bisher hatte ich diese Pflicht erfüllt, ohne mir bewußt zu werden, daß es eine wäre; aber schließlich begriff ich, daß ich mich mit einer Kette belastet, deren Gewicht mich die Freundschaft allein zu fühlen verhindert hatte; und durch meinen Widerwillen gegen zahlreiche Gesellschaften hatte ich dieses Gewicht
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