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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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zog ich Mums geblümten Regenmantel an und zog die Kapuze über den Kopf, als ich vor die Haustür trat. Der Mann im Hauseingang von Nummer 18 zündete sich gerade eine Zigarette an. Einer plötzlichen Eingebung folgend winkte ich ihm zu, während ich die Treppen hinuntersprang.
    Er winkte nicht zurück. Natürlich nicht.
    »Blödmann.« Ich lief los, Richtung Oxford Street. Es regnete fürchterlich. Ich hätte besser nicht nur den Regenmantel, sondern auch Gummistiefel angezogen. Mein Lieblings-Magnolienbaum an der Ecke ließ traurig seine Blüten hängen. Bevor ich ihn erreicht hatte, war ich schon dreimal in eine Pfütze getreten. Als ich gerade eine vierte umgehen wollte, riss es mich vollkommen ohne Vorwarnung von den Beinen. Mein Magen fuhr Achterbahn und die Straße verschwamm vor meinen Augen zu einem grauen Fluss.
     
    Ex hoc momento pendet aeternitas.
    (An diesem Augenblick hängt die Ewigkeit.)
     
    Inschrift einer Sonnenuhr, Middle Temple, London
     

3.
    Als ich wieder klar sehen konnte, bog ein Oldtimer um die Ecke und ich kniete auf dem Bürgersteig und zitterte vor Schreck.
    Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Straße. Sie sah anders aus als sonst. Alles war in der letzten Sekunde anders geworden.
    Der Regen hatte aufgehört, dafür wehte ein eisiger Wind und es war viel dunkler als vorhin, fast Nacht. Der Magnolienbaum trug weder Blüten noch Blätter. Ich war nicht mal sicher, ob es überhaupt noch ein Magnolienbaum war.
    Die Spitzen des Zauns, der ihn umgab, waren golden bemalt. Ich hätte schwören können, dass sie gestern noch schwarz gewesen waren.
    Wieder bog ein Oldtimer um die Ecke. Ein seltsames Gefährt mit hohen Rädern und hellen Speichen. Ich blickte den Bürgersteig entlang - die Pfützen waren verschwunden. Und die Verkehrsschilder. Dafür war das Pflaster krumm und buckelig und die Straßenlaternen sahen anders aus, ihr gelbliches Licht drang kaum weiter als bis zum nächsten Hauseingang.
    Tief in meinem Inneren schwante mir Übles, aber ich war noch nicht so weit, diesen Gedanken zuzulassen.
    Also zwang ich mich erst einmal durchzuatmen. Dann schaute ich mich noch einmal um, diesmal gründlicher.
    Okay, genau genommen war gar nicht so viel anders. Die meisten Häuser sahen eigentlich aus wie immer. Trotzdem - dort hinten war der Teeladen verschwunden, in dem Mum die leckeren Prince-of-Wales-Kekse einkaufte, und das Eckhaus da drüben mit den mächtigen Säulen davor hatte ich noch nie zuvor gesehen.
    Ein Mann mit Hut und schwarzem Mantel musterte mich im Vorbeigehen leicht pikiert, machte aber keine Anstalten, mich anzusprechen oder mir gar aufzuhelfen. Ich stand auf und klopfte mir den Dreck von den Knien.
    Das Üble, das mir geschwant hatte, wurde langsam, aber sicher zur schrecklichen Gewissheit.
    Wem wollte ich hier etwas vormachen?
    Ich war weder in eine Oldtimer-Rallye geraten, noch hatte der Magnolienbaum urplötzlich die Blätter abgeworfen. Und obwohl ich alles dafür gegeben hätte, wenn Nicole Kidman plötzlich um die Ecke gebogen wäre, war dies leider auch nicht die Kulisse eines Henry-James-Films.
    Ich wusste genau, was passiert war. Ich wusste es einfach. Und ich wusste auch, dass hier ein Irrtum vorliegen musste.
    Ich war in einer anderen Zeit gelandet.
    Nicht Charlotte.
Ich.
Irgendjemand hatte einen großen Fehler gemacht.
    Unvermittelt begannen meine Zähne zu klappern. Nicht nur vor Aufregung, sondern auch vor Kälte. Es war bitterkalt.
    »Ich wüsste, was ich zu tun hätte« -
Charlottes Worte klangen mir wieder im Ohr.
    Klar, Charlotte wüsste, was sie tun müsste. Aber mir hatte es niemand verraten.
    Also stand ich zitternd und zähneklappernd an meiner Straßenecke und ließ mich von den Leuten begaffen. Viele waren es nicht, die hier entlangliefen. Eine junge Frau im knöchellangen Mantel kam mit einem Korb am Arm an mir vorbei, hinter ihr ging ein Mann mit Hut und hochgeschlagenem Kragen.
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Sie können mir nicht zufällig sagen, welches Jahr wir haben?«
    Die Frau tat, als habe sie mich nicht gehört, und beschleunigte ihre Schritte.
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Unverschämtheit«, knurrte er.
    Ich seufzte. Wirklich viel genutzt hätte mir die Information sowieso nicht. Es spielte im Grunde keine Rolle, ob wir uns im Jahr 1899 befanden oder im Jahr 1923.
    Wenigstens wusste ich,
wo
ich war. Ich wohnte ja keine hundert Meter von hier. Was lag da näher, als einfach nach Hause zu gehen?
    Irgendetwas musste ich ja tun.
    Die

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