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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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»Mum, jetzt tu doch was!«
    »Sie hat keinen Schlaganfall. Und sie hat auch nichts verschluckt. Sie hat eine Vision«, sagte Mum. »Es ist gleich vorbei.«
    »Sicher?« Großtante Maddys starrer Blick machte mir Angst. Die Pupillen waren riesig, ihre Lider vollkommen unbeweglich.
    »Hier ist es plötzlich so kalt«, flüsterte Nick. »Spürt ihr das auch?«
    Caroline wimmerte vor sich hin. »Macht doch, dass es aufhört.«
    »Lucy!«, rief jemand. Wir fuhren erschrocken zusammen, dann begriffen wir, dass es Großtante Maddy gewesen war. Und es war wirklich kühler geworden. Ich sah mich um, aber es war kein Geist im Zimmer zu sehen. »Lucy, das liebe Kind. Sie führt mich zu einem Baum. Einem Baum mit roten Beeren. Oh, wo ist sie denn nun? Ich kann sie nicht mehr sehen. Da liegt etwas zwischen den Wurzeln. Ein riesiger Edelstein, ein geschliffener Saphir. Ein Ei. Ein Ei aus Saphir. Wie schön es ist. Wie kostbar. Aber jetzt bekommt es Risse, oh, es geht kaputt, da ist etwas drin . . . ein kleiner Vogel schlüpft. Ein Rabe. Er hüpft auf den Baum.« Großtante Maddy lachte. Aber ihr Blick war so starr wie vorher. Die Hände krampften sich weiter um die Lehne.
    »Der Wind kommt.« Großtante Maddys Lachen erstarb. »Ein Sturm. Alles dreht sich. Ich fliege. Ich fliege mit dem Raben zu den Sternen. Ein Turm. Hoch oben am Turm eine riesige Uhr. Dort sitzt jemand, oben auf der Uhr, und baumelt mit den Beinen. Komm sofort herunter, du leichtsinniges Mädchen!« Plötzlich war Angst in ihrer Stimme. Sie fing an zu schreien. »Der Sturm wird sie hinunterwerfen. Das ist viel zu hoch. Was tut sie denn da? Ein Schatten! Ein großer Vogel kreist am Himmel! Da! Er stößt auf sie nieder. Gwendolyn! Gwendolyn!«
    Das war ja nicht zum Aushalten. Ich schob meine Mum zur Seite, packte Großtante Maddy an der Schulter und schüttelte sie leicht. »Ich bin doch hier, Tante Maddy! Bitte! Sieh doch!«
    Großtante Maddy drehte den Kopf und sah mich an. Allmählich kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück. »Mein Engelchen«, sagte sie. »Das war wirklich der pure Leichtsinn, so hoch hinaufzuklettern!«
    »Bist du wieder okay?« Ich schaute zu meiner Mum. »Bist du sicher, dass es nichts Schlimmes war?«
    »Es war eine Vision«, sagte Mum. »Es geht ihr gut.«
    »Nein, geht es mir nicht. Es war eine schlimme Vision«, sagte Großtante Maddy. »Das heißt, der Anfang war ganz nett.«
    Caroline hatte aufgehört zu weinen. Sie und Nick starrten Großtante Maddy befremdet an.
    »Das war gruselig«, sagte Nick. »Habt ihr gemerkt, wie kalt es wurde?«
    »Das hast du dir eingebildet«, sagte ich. »Habe ich nicht!«
    »Ich habe es auch gemerkt«, sagte Caroline. »Ich habe eine Gänsehaut bekommen.«
    Großtante Maddy griff nach Mums Hand. »Ich habe deine Nichte Lucy getroffen, Grace. Sie sah noch genauso aus wie damals. Dieses süße Lächeln . . .«
    Mum sah aus, als finge sie gleich an zu weinen.
    »Den Rest habe ich wieder mal nicht verstanden«, fuhr Großtante Maddy fort. »Ein Ei aus Saphir, ein Rabe, Gwendolyn auf der Turmuhr und dann dieser böse Vogel. Verstehst
du
das?«
    Mum seufzte. »Natürlich nicht, Tante Maddy. Es sind
deine
Visionen.« Sie ließ sich neben ihr auf einen der Esszimmerstühle sinken.
    »Ja, aber deshalb verstehe ich sie trotzdem nicht«, sagte Großtante Maddy. »Hast du alles mitgeschrieben, damit wir es später deiner Mutter erzählen können?«
    »Nein, Tantchen, das habe ich nicht.«
    Maddy beugte sich vor. »Dann sollten wir es sofort aufschreiben. Also, zuerst war da Lucy, dann der Baum. Rote Beeren ... Könnte das eine Eberesche gewesen sein? Da lag dieser Edelstein, der wie ein Ei geschliffen war ... meine Güte, habe ich einen Hunger! Ich hoffe, ihr habt den Nachtisch nicht ohne mich gegessen. Heute habe ich mir mindestens zwei Stücke verdient. Oder drei.«
     
    »Das war wirklich obergruselig vorhin«, sagte ich. Caroline und Nick waren schon ins Bett gegangen und ich saß bei Mum auf der Bettkante und versuchte, eine geschickte Überleitung zu meinem Problem zu finden.
Munt, heute Nachmittag ist etwas passiert und ich habe Angst, dass es wieder passieren könnte.
    Mum widmete sich ihrer abendlichen Schönheitspflege. Mit dem Gesicht war sie bereits fertig. Die gute Pflege lohnte sich offenbar. Dass meine Mutter über vierzig war, konnte man ihr wirklich nicht ansehen.
    »Das war das erste Mal, dass ich bei einer von Großtante Maddys Visionen dabei war«, sagte ich.
    »Das war auch das erste Mal, dass

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