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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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diese Treppen auch im Schlaf hätte hinunterrennen können. Jede einzelne Stufe war mir bestens vertraut. Ich raste zwei Stockwerke in Lichtgeschwindigkeit hinab, vorbei an Urururgroßonkel Hughs Gemälde, das ich mit einigem Bedauern links liegen ließ, weil die Geheimtür ein prima Ausweg aus dieser verflixten Situation gewesen wäre. Aber der Mechanismus klemmte immer ein bisschen und in der Zeit, die ich benötigte, um die Tür zu öffnen, würde mich der Mann im Nachthemd schon eingeholt haben. Nein, ich brauchte ein besseres Versteck.
    Im ersten Stock rannte ich beinahe ein Mädchen mit einem Häubchen um, das einen großen Krug schleppte. Sie quiekte laut auf, als ich vorbeiraste, und ließ - wie in einer Filmszene - den Krug fallen. Flüssigkeit platschte zusammen mit Scherben auf den Boden.
    Ich hoffte, mein Verfolger würde - auch wie im Film - darüber ausrutschen. Auf jeden Fall kam er nicht so schnell daran vorbei. Meinen Vorsprung nutzte ich, um die Treppe hinab auf die Orchesterempore zu rennen. Ich riss die Tür zu dem kleinen Verschlag unter der Treppe auf und kauerte mich dort zusammen. Wie in meiner Zeit war es hier staubig und unordentlich und voller Spinnweben. Durch die Ritzen zwischen den Treppenstufen drang etwas Licht in den Verschlag, jedenfalls genug, um zu erkennen, dass in diesem Schrank niemand schlief. Genau wie bei uns war er bis in den letzten Winkel mit Gerumpel vollgestopft.
    Über mir hörte ich laute Stimmen. Der Nachthemd-Mann diskutierte mit dem armen Mädchen, das den Krug fallen gelassen hatte.
    »Wahrscheinlich eine Diebin! Ich habe sie noch nie hier im Haus gesehen.« Andere Stimmen kamen dazu.
    »Sie ist nach unten gerannt. Vielleicht sind noch andere von dem Pack im Haus.«
    »Ich kann nichts dafür, Mrs Mason. Diese Diebin hat mich einfach umgerannt. Wahrscheinlich haben sie es auf Myladys Juwelen abgesehen.«
    »Auf der Treppe ist mir niemand entgegengekommen. Sie muss also noch irgendwo sein. Sperrt die Haustür ab und durchsucht das Haus«, befahl eine sehr energische Frauenstimme. »Und Sie, Walter, gehen auf der Stelle nach oben und ziehen sich etwas an. Ihre haarigen Waden sind kein erfreulicher Anblick am frühen Morgen.«
    Oh mein Gott! Ich hatte mich als Kind etwa eine Million Mal hier versteckt, aber noch niemals hatte ich so eine Angst gehabt, dass man mich finden könnte. Vorsichtig, um keine verräterischen Geräusche zu machen, schob ich mich tiefer in das Gerumpel hinein. Dabei lief mir eine Spinne über den Arm und ich hätte beinahe laut aufgekreischt, so groß war sie.
    »Lester, Mr Jenkins und Tott, ihr durchsucht das Erdgeschoss und die Kellerräume. Mary und ich übernehmen den ersten Stock. Clarisse bewacht die Hintertür, Helen den Eingang.«
    »Und wenn sie durch die Küche entkommen will?«
    »Dazu müsste sie erst an Mrs Craine und ihren eisernen Pfannen vorbei. Schaut in den Verschlagen unter der Treppe nach und hinter allen Vorhängen.«
    Ich war verloren.
    Ach, verflucht. Das war doch alles total - surreal!
    Da hockte ich im Schlafanzug zwischen dicken Spinnen, staubigen Möbeln und - iiiih, war das etwa ein ausgestopftes Krokodil? - in einem Verschlag und wartete darauf, dass man mich wegen versuchten Diebstahls verhaftete. Und das alles nur, weil irgendwas falschlief und Isaac Newton sich verrechnet hatte.
    Vor lauter Wut und Hilflosigkeit fing ich an zu weinen. Vielleicht würden diese Menschen ja Mitleid mit mir haben, wenn sie mich so fanden. Im Dämmerlicht funkelten mich die Glasaugen des Krokodils spöttisch an. Überall waren jetzt Schritte zu hören. Staub rieselte mir von den Treppenstufen in die Augen.
    Doch dann spürte ich wieder dieses Ziehen im Magen. Noch nie war es mir so willkommen gewesen wie jetzt. Das Krokodil verschwamm vor meinen Augen, dann wirbelte alles um mich herum und es war wieder still. Und stockdunkel.
    Ich atmete tief durch. Kein Grund zur Panik. Vermutlich war ich wieder zurückgesprungen. Und vermutlich klemmte ich nun mitten im Gerumpel unter der Treppe in unserer Zeit fest. Wo es durchaus auch dicke Spinnen gab.
    Etwas streifte ganz zart mein Gesicht. Okay, doch Panik! Ich ruderte hektisch mit den Armen in der Luft herum und zerrte meine Beine unter einer Kommode heraus. Es rumpelte, Bretter knirschten, eine alte Lampe purzelte zu Boden. Das heißt, ich schätzte, dass es die Lampe war, sehen konnte ich nichts. Aber ich konnte mich befreien. Erleichtert tastete ich mich zur Tür und kroch aus meinem

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