Rubinrot
sie eine während des Abendessens hatte«, erwiderte Mum, während sie Creme auf ihre Hände auftrug und einmassierte. Sie behauptete immer, dass man das Alter am ehesten an den Händen und dem Hals erkennen könne.
»Und - kann man ihre Visionen ernst nehmen?«
Mum zuckte mit den Schultern. »Tja. Du hast ja gehört, was für ein verworrenes Zeug sie erzählt hat. Man kann es irgendwie immer passend interpretieren. Drei Tage, bevor dein Großvater starb, hatte sie auch eine Vision. Von einem schwarzen Panther, der ihm auf die Brust sprang.«
»Großvater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Das passt doch.«
»Sage ich ja - es passt irgendwie immer. Möchtest du auch Handcreme?«
»Glaubst du denn daran? Ich meine, nicht an Handcreme, sondern an Tante Maddys Visionen?«
»Ich glaube, dass Tante Maddy wirklich sieht, was sie sagt. Aber das heißt noch lange nicht, dass das, was sie sieht, die Zukunft voraussagt. Oder sonst irgendwas zu bedeuten hat.«
»Das verstehe ich nicht!« Ich hielt Mum meine Hände hin und sie begann, sie mit Creme zu bestreichen.
»Das ist ein bisschen wie mit deinen Geistern, Liebling. Ich bin überzeugt, dass du sie sehen kannst, genau wie ich Tante Maddy glaube, dass sie Visionen hat.«
»Soll das heißen, du glaubst zwar, dass ich Geister sehe, aber du glaubst nicht, dass es sie gibt?«, rief ich aus und zog ihr empört meine Hände weg.
»Ich
weiß
nicht, ob es sie wirklich gibt«, sagte Mum. »Was ich glaube, spielt doch keine Rolle.«
»Aber wenn es sie nicht gäbe, würde das ja bedeuten, dass ich sie mir nur einbilden würde. Und das wiederum würde bedeuten, dass ich verrückt wäre.«
»Nein«, sagte meine Mum. »Es würde nur bedeuten, dass ach Liebling! Ich weiß auch nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, in dieser Familie haben alle einfach ein bisschen zu viel Fantasie. Und wir würden viel friedlicher und glücklicher leben, wenn wir uns auf das beschränkten, was
normale
Leute auch glauben.«
»Verstehe«, sagte ich. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, mit meinen Neuigkeiten rauszurücken.
Hey, Mum, heute Nachmittag sind wir in die Vergangenheit gereist, ich und meine unnormale Fantasie.
»Jetzt sei bitte nicht beleidigt«, sagte Mum. »Ich weiß, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir uns nicht erklären können. Aber möglicherweise messen wir diesen Dingen viel zu viel Bedeutung bei, je mehr wir uns mit ihnen beschäftigen. Ich halte dich nicht für verrückt. Und Tante Maddy auch nicht. Aber mal ehrlich: Glaubst du, Tante Maddys Vision hätte irgendwas mit deiner Zukunft zu tun?«
»Vielleicht.«
»Ach ja? Hast du vor, in nächster Zeit auf einen Turm zu klettern und dich dort auf die Uhr zu setzen, um mit den Beinen zu baumeln?«
»Natürlich nicht. Aber vielleicht ist es ein Symbol.«
»Ja, vielleicht«, sagte Mum. »Vielleicht aber auch nicht. Geh jetzt schlafen, Liebling. Das war ein langer Tag.« Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. »Hoffen wir, dass Charlotte es mittlerweile hinter sich hat. Oh Gott, ich wünsche mir so sehr, dass sie es endlich geschafft hat.«
»Vielleicht hat Charlotte aber auch nur zu viel Fantasie«, sagte ich, stand auf und gab Mum einen Kuss.
Ich würde es morgen noch einmal versuchen.
Vielleicht.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, meine Große. Ich hab dich lieb.« »Ich dich auch, Mum.«
Als ich meine Zimmertür hinter mir zumachte und in mein Bett kletterte, fühlte ich mich ziemlich mies. Ich wusste, ich hätte meiner Mutter alles erzählen sollen. Aber das, was sie gesagt hatte, hatte mich nachdenklich gestimmt. Sicher verfügte ich über viel Fantasie, aber Fantasie zu haben war eine Sache. Sich dagegen einzubilden, in der Zeit zu reisen, eine ganz andere.
Leute, die sich so etwas einbildeten, wurden ärztlich behandelt. Zu Recht, wie ich fand. Vielleicht war ich ja wie all diese Typen, die behaupteten, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Einfach nur bekloppt.
Ich knipste die Nachttischlampe aus und kuschelte mich unter die Decke. Was war denn schlimmer? Verrückt zu sein oder wirklich in der Zeit zu springen?
Vermutlich Letzteres, dachte ich. Gegen das andere konnte man vielleicht Tabletten schlucken.
Im Dunkeln kam auch die Angst zurück. Ich dachte wieder daran, wie tief ich fallen würde, von hier oben bis auf den Erdboden. Also knipste ich die Nachttischlampe wieder an und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Um einschlafen zu können, versuchte ich, an etwas
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