Rubinrot
sein. Ich meinte gewöhnlich nicht im Sinn von
ordinär,
eher im Sinn von
durchschnittlich,
weißt du?« Das wurde ja immer besser.
»Schon gut«, sagte ich und funkelte ihn wütend an. »Es ist mir egal, was du von mir denkst.«
Er gab meinen Blick gelassen zurück. »Du kannst ja nichts dafür.«
»Du kennst mich doch überhaupt nicht!«, schnaubte ich. »Mag sein«, sagte Gideon. »Aber ich kenne haufenweise Mädchen wie dich. Ihr seid alle gleich.« »Haufenweise Mädchen? Ha!«
»Mädchen wie du interessieren sich nur für Frisuren, Klamotten, Filme und Popstars. Und ständig kichert ihr und geht nur gruppenweise aufs Klo. Und lästert über Lisa, weil sie sich ein Fünf-Pfund-T-Shirt bei
Marks and Spencer
gekauft hat.«
Obwohl ich so wütend war, musste ich hell auflachen. »Willst du sagen, alle Mädchen, die du kennst, lästern über Lisa, die sich ein T-Shirt bei
Marks and Spencer
gekauft hat?«
»Du weißt schon, wie ich das meine.«
»Ja, ich weiß schon.« Ich wollte eigentlich nicht weitersprechen, aber es brach einfach so aus mir heraus: »Du denkst, alle Mädchen, die nicht so sind wie Charlotte, sind oberflächlich und dumm. Nur weil wir eine normale Kindheit hatten und nicht pausenlos Fecht- und Mysterienunterricht. In Wahrheit hattest du keine Zeit, jemals ein normales Mädchen kennenzulernen, deshalb hast du dir diese traurigen Vorurteile zurechtgelegt.«
»Na, hör mal! Ich war genauso auf der High School wie du.«
»Ja, klar!« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. »Wenn du nur halb so gründlich auf dein Leben als Zeitreisender vorbereitet worden bist wie Charlotte, dann hast du weder männliche noch weibliche Freunde und deine Meinung über sogenannte
durchschnittliche
Mädchen beruht auf Beobachtungen, die du angestellt hast, wenn du einsam auf dem Schulhof herumstandest. Oder willst du mir erzählen, dass deine Mitschüler im Internat deine Hobbys - Latein, Gavottetanzen und Pferdekutschenfahren - wahnsinnig cool fanden?«
Anstatt beleidigt zu sein, sah Gideon amüsiert aus. »Violinespielen hast du noch vergessen.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust.
»Violine? Wirklich?« Meine Wut verrauchte so plötzlich, wie sie gekommen war. Violine - also
echt!
»Wenigstens hat dein Gesicht jetzt wieder ein bisschen Farbe. Eben warst du so blass wie Miro Rakoczy.«
Richtig, Rakoczy. »Wie wird das eigentlich geschrieben?«
»R - a - k - o - c - z - y«, sagte Gideon. »Wieso?«
»Ich möchte ihn googeln.«
»Oh, hat er dir so gefallen?«
»Gefallen? Er ist ein Vampir«, sagte ich. »Er kommt aus Transsilvanien.«
»Er kommt aus Transsilvanien. Aber er ist kein Vampir.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Weil es keine Vampire gibt, Gwendolyn.«
»Ach ja? Wenn es Zeitmaschinen gibt« - und Menschen, die in der Lage sind, einen zu erwürgen, ohne einen zu berühren - »warum sollte es da nicht auch Vampire geben? Hast du mal in seine Augen gesehen? Sie waren wie schwarze Löcher.«
»Das kommt von den Belladonna-Tränken, mit denen er experimentiert«, sagte Gideon. »Ein Pflanzengift, das angeblich hilft, das Bewusstsein zu erweitern.«
»Woher weißt du das denn?«
»Es steht in den Annalen der Wächter. Rakoczy wird dort
der schwarze Leopard
genannt. Er hat den Grafen zweimal vor einem Mordanschlag bewahrt. Er ist sehr stark und ungeheuer geschickt im Umgang mit Waffen.«
»Wer wollte den Grafen umbringen?«
Gideon zuckte mit den Schultern. »Ein Mensch wie er hat viele Feinde.«
»Das glaube ich gerne«, sagte ich. »Aber ich hatte den Eindruck, dass er gut auf sich selber aufpassen kann.«
»Ohne Zweifel«, stimmte Gideon mir zu.
Ich überlegte, ob ich ihm erzählen sollte, was der Graf getan hatte, aber dann entschied ich mich dagegen. Gideon war nicht nur höflich zu ihm gewesen, es hatte für mich so ausgesehen, als wären der Graf und er ein Herz und eine Seele.
Vertraue niemandem.
»Du bist wirklich in die Vergangenheit zu all diesen Menschen gereist und hast ihnen Blut abgezapft?«, fragte ich stattdessen.
Gideon nickte. »Mit dir und mir sind jetzt wieder acht von zwölf Zeitreisenden in den Chronografen eingelesen. Die restlichen vier werde ich auch noch finden.«
Ich erinnerte mich an die Worte des Grafen und fragte: »Wie kannst du von London nach Paris und Brüssel gereist sein? Ich denke, die Zeitdauer, die man in der Vergangenheit verbringen kann, ist auf ein paar Stunden beschränkt.«
»Auf vier, um genau zu
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