Rubinrot
überraschend sanfter Ton war zu viel für meine Selbstbeherrschung. Die Tränen kullerten mir aus den Augen, ehe ich es verhindern konnte.
»Hey, Gwendolyn. Es tut mir leid.« Gideon trat unvermittelt auf mich zu, fasste mich an der Schulter und zog mich an sich. »Ich Idiot hab vergessen, wie das für dich sein muss«, murmelte er irgendwo schräg über meinem Ohr. »Dabei kann ich mich noch erinnern, was für ein blödes Gefühl es war, als ich die ersten Male gesprungen bin. Trotz der Degenstunden. Nicht zu vergessen den Geigenunterricht. . .«
Seine Hand streichelte über mein Haar.
Ich schluchzte nur noch lauter.
»Wein doch nicht«, sagte er hilflos. »Alles ist gut.«
Aber nichts war gut. Alles war fürchterlich. Die wilde Verfolgungsjagd heute Nacht, als man mich für eine Diebin gehalten hatte, Rakoczys gruselige Augen, der Graf mit seiner eiskalten Stimme und der Würgehand an meinem Hals und schließlich der arme Wilbour und dieser Mann, dem ich einen Degen in den Rücken gestoßen hatte. Und erst recht die Tatsache, dass ich es nicht mal schaffte, Gideon meine Meinung zu sagen, ohne dass ich in Tränen ausbrach und er mich trösten musste!
Ich riss mich los.
Himmel, wo war meine Selbstachtung? Verlegen wischte ich mir mit der Hand übers Gesicht.
»Taschentuch?«, fragte er und zog lächelnd ein zitronengelbes Tuch mit Spitzenbesatz aus seiner Tasche. »Im Rokoko gab es leider noch keine Tempos. Aber ich schenk es dir.«
Ich wollte gerade danach greifen, als eine schwarze Limousine neben uns stoppte.
Im Wageninneren wartete Mr George auf uns, die Glatze voll feiner Schweißtröpfchen, und bei seinem Anblick beruhigten sich die unablässig kreisenden Gedanken in meinem Kopf ein bisschen. Übrig blieb nur die tödliche Müdigkeit.
»Wir sind fast umgekommen vor Sorgen«, sagte Mr George. »Oh mein Gott, Gideon, was ist mit deinem Arm? Du blutest! Und Gwendolyn ist ja vollkommen aufgelöst! Ist sie verletzt?«
»Nur erschöpft«, sagte Gideon knapp. »Wir bringen sie nach Hause.«
»Aber das geht nicht. Wir müssen euch beide untersuchen und deine Wunde muss schnellstens versorgt werden.«
»Es hat längst aufgehört zu bluten, nur ein Kratzer, wirklich. Gwendolyn will nach Hause.«
»Sie hat vielleicht noch nicht genug elapsiert. Sie muss doch morgen in die Schule gehen und . . .«
Gideons Stimme nahm den altvertrauten arroganten Tonfall an, aber diesmal galt er nicht mir.
»Mr George. Sie war drei Stunden weg, das reicht für die nächsten achtzehn Stunden.«
»Wahrscheinlich würde es das«, sagte Mr George. »Aber es verstößt gegen die Regeln und wir müssen außerdem wissen, ob ...«
»Mr George!«
Er gab auf, drehte sich um und klopfte an das Fenster zur Fahrerkabine. Die Trennwand fuhr mit einem Surren abwärts.
»Fahren Sie rechts rein in die Berkeley Street«, sagte er. »Wir machen einen kleinen Umweg. Bourdonplace. Nr. 81.«
Ich atmete erleichtert auf, als das Auto in die Berkeley Street rollte. Ich durfte nach Hause. Zu meiner Mum.
Mr George sah mich ernst an. Sein Blick war mitleidig, als hätte er noch nie etwas Bedauernswerteres gesehen als mich. »Was ist denn um Himmels willen geschehen?«
Immer noch diese bleierne Müdigkeit.
»Unsere Kutsche wurde im Hyde Park von drei Männern überfallen«, sagte Gideon. »Der Kutscher wurde dabei erschossen.«
»Oh mein Gott«, sagte Mr George. »Ich verstehe es zwar nicht, aber es macht Sinn.«
»Was denn?«
»Es steht in den Annalen. 14. September 1782. Ein Wächter zweiten Grades namens James Wilbour wird im Hyde Park tot aufgefunden. Eine Pistolenkugel hat ihm das halbe Gesicht weggerissen. Man hat nie herausgefunden, wer das getan hat.«
»Jetzt wissen wir es«, sagte Gideon grimmig. »Das heißt, ich weiß, wie sein Mörder aussah, aber ich kenne seinen Namen nicht.«
»Und ich habe ihn getötet«, sagte ich stumpf. »Was?«
»Sie hat dem Angreifer Wilbours Degen in den Rücken gerammt«, sagte Gideon. »Mit Anlauf. Ob sie ihn wirklich getötet hat, wissen wir allerdings nicht.«
Mr Georges blaue Augen waren kugelrund geworden. »Sie hat
was?«
»Es waren zwei gegen einen«, murmelte ich. »Ich konnte doch nicht zugucken.«
»Es waren drei gegen einen«, verbesserte mich Gideon. »Und den einen hatte ich schon erledigt. Ich hatte gesagt, du sollst in der Kutsche bleiben, egal, was passiert.«
»Es sah nicht so aus, als hättest du noch lange durchgehalten«, sagte ich, ohne ihn anzusehen.
Gideon schwieg.
Mr
Weitere Kostenlose Bücher