Rubinrot
auf die Schultern. »Komm schon! Wir lassen uns nicht unterkriegen.«
»Nein. Nein, das lassen wir uns nicht.« Ich beneidete Leslie um ihren unerschütterlichen Optimismus. Sie betrachtete die Dinge stets von ihrer guten Seite. Sofern sie denn welche hatten.
Aus den Annalen der Wächter, 14. August 1949
15 bis 18 Uhr. Lucy und Paul sind zum Elapsieren in meinem Büro erschienen. Wir plauderten über Wiederaufbau und Stadtteilsanierung und die unglaubwürdige Tatsache, dass Notting Hill in ihrer Zeit als einer der begehrtesten und schicksten aller Stadtteile gelten wird. (Sie nennen das »trendy«.) Sie brachten mir außerdem eine Liste aller Wimbledon-Sieger ab 1950. Ich versprach, die Welt gewinne in einen Fonds für die Collegeausbildung meiner Kinder und Enkelkinder zu stecken. Außerdem gedenke ich, eine oder zwei der heruntergekommenen Immobilien in Notting Hill zu erwerben. Man weiß ja nie.
Bericht: Lucas Montrose, Adept 3. Grad
14.
Der Unterricht kroch quälend langsam dahin, das Mittagessen war widerlich wie immer (Yorkshirepudding), und als wir nach einer Doppelstunde Chemie am Nachmittag endlich nach Hause durften, fühlte ich mich eigentlich wieder bereit, schlafen zu gehen.
Charlotte hatte mich den ganzen Tag ignoriert. Einmal, in der Pause, hatte ich versucht, mit ihr zu sprechen, und da hatte sie gesagt: »Falls du dich entschuldigen willst - vergiss es!«
»Wofür sollte ich mich denn entschuldigen?«, hatte ich aufgebracht gefragt.
»Also, wenn du das selber nicht weißt. . .«
»Charlotte! Ich kann doch überhaupt nichts dafür, dass ich und nicht du dieses doofe Gen geerbt habe.«
Charlotte hatte mich wütend angefunkelt. »Es ist kein
doofes Gen -
es ist eine Gabe. Etwas ganz Besonderes. Und an jemanden wie dich ist es einfach nur verschwendet. Aber du bist viel zu kindisch, um das auch nur annähernd zu begreifen.«
Und dann hatte sie sich umgedreht und mich einfach stehen lassen.
»Sie wird sich schon wieder einkriegen«, sagte Leslie, als wir unsere Sachen aus den Spinden holten. »Sie muss sich nur erst daran gewöhnen, dass
sie
nichts mehr Besonderes ist.«
»Aber sie ist so ungerecht«, sagte ich. »Ich habe ihr schließlich nichts weggenommen.«
»Im Grunde schon!« Leslie reichte mir ihre Haarbürste. »Hier!«
»Was soll ich damit?«
»Dir die Haare bürsten, was sonst!«
Ich fuhr mir folgsam mit der Bürste durch die Haare. »Warum tue ich das eigentlich?«, fragte ich dann.
»Ich wollte nur, dass du hübsch aussiehst, wenn du Gideon wiedersiehst. Glücklicherweise brauchst du keine Wimperntusche, deine Wimpern sind von Natur aus so wahnsinnig schwarz und lang . . .«
Ich war bei der Erwähnung von Gideons Namen knallrot geworden. »Vielleicht treffe ich ihn ja heute gar nicht. Ich soll schließlich nur zum Hausaufgabenmachen nach 1956 geschickt werden, in einen Kellerraum.«
»Ja, aber vielleicht läuft er dir irgendwann vorher oder hinterher über den Weg.«
»Leslie, ich bin nicht sein Typ!«
»Das hat er nicht so gemeint«, sagte Leslie.
»Doch, hat er!«
»Na und? Seine Meinung kann man ändern. Auf jeden Fall ist er
dein
Typ.«
Ich machte den Mund auf und gleich wieder zu. Es war zwecklos, es zu leugnen. Er
war
mein Typ. Obwohl ich mir liebend gerne etwas anderes vorgemacht hätte.
»Jedes Mädchen würde ihn toll finden«, sagte ich. »Zumindest vom Aussehen her. Aber er bringt mich die ganze Zeit auf die Palme und er kommandiert mich herum und er ist einfach ... er ist einfach unwahrscheinlich . . .«
». .. toll?« Leslie lächelte mich liebevoll an. »Das bist du auch, ehrlich! Du bist das allertollste Mädchen, das ich kenne. Vielleicht mal von mir selber abgesehen. Und herumkommandieren kannst du übrigens auch. Komm jetzt. Ich will unbedingt die Limousine sehen, mit der du abgeholt wirst.«
James nickte mir steif zu, als wir an seiner Nische vorbeikamen.
»Warte mal«, sagte ich zu Leslie. »Ich muss James was fragen.«
Als ich stehen blieb, verschwand der blasierte Ausdruck von James' Gesicht und er lächelte mich erfreut an. »Ich habe noch einmal über unser letztes Gespräch nachgedacht«, sagte er.
»Über das Küssen?«
»Nein! Über die Blattern. Möglicherweise habe ich sie doch bekommen. Dein Haar glänzt übrigens heute sehr schön.«
»Danke. James? Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Ich hoffe, es hat nichts mit Küssen zu tun.«
Ich musste lachen. »Auch keine schlechte Idee«, sagte ich. »Aber mir geht es
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