Ruchlos
die Augen. Ich schaffte es gerade noch, ein » Widerlegt wurde gar nichts!« herauszubringen, dann stand ich so ruhig wie möglich auf und ging in den Waschraum, wo ich in eine Kabine stürzte und wie ein Schlosshund zu weinen begann. Ich schämte mich in Grund und Boden für meinen Fehler, war aber dennoch wütend auf Andy. Es dauerte lange, bis ich mich beruhigte.
In der Konferenz schaute Jonas Michaelis Andreas an wie ein Hündchen, das darauf wartet, sein Stöckchen geworfen zu bekommen. Andy sagte nichts mehr zu meinem Artikel, er gab mir nur drei Routinetermine. Zum Schluss bat er mich, mit in sein Büro zu kommen und verließ ohne ein weiteres Wort die Redaktion.
»Das gibt einen gigantischen Ärger«, sagte er, kaum dass ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. »Zweimal eine Gegendarstellung zum gleichen Thema – kannst du dir ausmalen, was das für den Ruf der Zeitung bedeutet?« Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. »Wie konnte das bloß passieren?«
Ich stand da wie ein abgekanzeltes Schulmädchen und wollte mich noch nicht einmal mehr verteidigen. Bloß nicht wieder losheulen, dachte ich und schluckte.
»Keine Ahnung. Ich habe wohl bloß an den Opi gedacht.«
Ich klang grässlich weinerlich. Was war mit mir los? Ich hatte doch sonst nicht so nah am Wasser gebaut.
Andy schien ebenfalls von meinem Tonfall irritiert. »Ich glaube, dir steckt doch der Virus in den Knochen. Wie wäre es, wenn du heute freimachst? Wir haben wieder die Anzeige auf der Drei, den Rest der Seite schreibe ich zu und deine Termine können wir aufteilen.«
»Du willst mich loswerden?«
Er schüttelte den Kopf. »Unsinn! Ich will dich aus der Schusslinie nehmen.«
Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn Andreas nur mein Chef wäre. Vielleicht würde ich das Angebot dann freudig annehmen.
»Nein. Ich bin nicht krank. Ich mache die Termine, die du mir gegeben hast, und arbeite noch ein bisschen was auf.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ ich sein Büro. Vor der Tür drückte sich Jonas Michaelis herum. Mit einer weit ausholenden Armbewegung winkte ich ihn zu Andy herein.
*
Nach meinem ersten Termin ging ich in die Apotheke. Wenig später saß ich wieder in der Redaktion in einer Toilettenkabine. Dieses Mal weinte ich nicht, obwohl seltsamerweise auch eine abgrundtiefe Traurigkeit in dem Gefühlscocktail war, mit dem ich die zwei feinen blauen Linien auf dem Schwangerschaftstest betrachtete.
3. KAPITEL
Ich war 38 Jahre alt. Mit 23, kurz vor Ende des Studiums, war ich schwanger gewesen. Von einem Mann, mit dem mich kaum mehr verband als das Interesse an den französischen Existenzialisten. Ich hatte ihm nichts davon gesagt. Ich hatte abgetrieben.
Andreas und ich versuchten seit über einem Jahr, ein Kind zu zeugen. Ich hatte mich schon fast an den Gedanken gewöhnt, dass es nichts werden würde – obwohl die Ärzte uns bescheinigt hatten, einer Schwangerschaft stünde nichts im Wege, allerdings könnte es in unserem Alter manchmal etwas dauern.
Nun war es also so weit.
Ich musste einen Termin bei meiner Ärztin machen. Ich musste mich gesund ernähren und irgendwelche Mineralstoffe einnehmen. Folsäure war wichtig, hatte ich gelesen. Ich durfte keinen Alkohol und keinen Kaffee mehr trinken.
Wir mussten unsere Wohnung umräumen. Das Arbeitszimmer eignete sich gut als Kinderzimmer.
Ich musste es Andreas sagen.
Ich hatte Angst.
Lange hockte ich dort in der muffigen kleinen Kabine. Jemand ging in die nebenan, erleichterte sich, stand dann lange am Waschbecken. Ich tippte auf Sandra, die sich bestimmt schon auf Martins Rückkehr am Montag freute – aber deshalb würde sie sich heute nicht schminken.
Martin. Martin war erst 27 und hatte schon eine zweijährige Tochter. Und eine Beziehung, die vor dem Aus stand.
Verdammt, warum kam mir das jetzt in den Sinn? Andreas und ich, wir waren mehr als erwachsen, wir hatten uns in jeder Hinsicht ausgetobt, wir wünschten uns dieses Kind. Schon lange. Wir würden gute Eltern abgeben. Wir hatten eine intakte Beziehung.
Hatten wir?
Ja, es war eine gefestigte Beziehung, die schon viele Schwierigkeiten überstanden hatte.
Dale und ich hatten es nie versucht. Als wir den Gedanken ernsthaft ins Auge gefasst hatten, war Andreas wieder in meinem Leben aufgetaucht. Wäre ich bei Dale weniger ängstlich? Vielleicht. Aber das war lange vorbei. Ich hatte mich für Andreas entschieden, er war der Vater. Dale war mit Jess zusammen, der engagierten
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