Rueckkehr ins Leben
den Armen, suche
nach einem geeigneten Ort, um ihn zur Ruhe zu legen.
Mein Körper schmerzt, und ich kann keinen Fuß heben, oh-
ne dass mir der Schmerz von den Zehen bis ins Rückgrat
hochfährt. Ich breche auf dem Boden zusammen und halte
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den Leichnam noch immer in den Armen. Blutflecken brei-
ten sich allmählich auf dem weißen Laken aus, das ihn be-
deckt. Ich lege den Leichnam auf dem Boden ab und wickle
ihn langsam aus, fange bei den Füßen an. Am ganzen Körper sind Einschusslöcher, bis hinauf zum Hals. Eine Kugel hat den Adamsapfel zertrümmert und dessen Überreste an die
Rückwand der Kehle gedrückt. Ich ziehe das Tuch vom Ge-
sicht. Ich sehe mich selbst.
Ich lag einige Minuten lang schwitzend auf dem kühlen
Holzboden, auf den ich gefallen war, bevor ich Licht machte, um mich von der Traumwelt zu befreien. Ein stechender
Schmerz durchzog mein Rückgrat. Ich musterte die blanke
rote Backsteinwand des Zimmers und versuchte, die Rapmu-
sik zu erkennen, die aus einem vorbeifahrenden Auto drang.
Ein Schauer durchlief meinen Körper, und ich versuchte, an mein neues Leben in New York zu denken, wo ich mich
nun seit über einem Monat befand. Aber meine Gedanken
wanderten immer wieder über den Atlantischen Ozean zu-
rück nach Sierra Leone. Ich sah mich, wie ich die AK-47
hielt und mit einem Trupp aus vielen Jungen und einigen
Erwachsenen durch eine Kaffeeplantage lief. Wir waren un-
terwegs zum Angriff auf eine kleine Stadt, in der es Munition und Lebensmittel gab. Kaum hatten wir die Kaffeeplantage
verlassen, stießen wir auf einem Fußballplatz, der an die Überreste dessen grenzte, was einmal ein Dorf gewesen war, völlig überraschend auf eine weitere bewaffnete Gruppe. Wir eröffneten das Feuer und schossen so lange, bis der letzte Überlebende der anderen Gruppe zu Boden gegangen war.
Wir gingen auf die Toten zu, klatschten uns gegenseitig in die Hände. Die Gruppe hatte wie unsere aus Jungen bestan-den, aber sie waren uns vollkommen egal. Wir nahmen ihnen die Munition ab, setzten uns auf die Leichen und aßen das gekochte Essen, das sie bei sich hatten. Um uns herum trat frisches Blut aus den Einschusslöchern in ihren Körpern.
Ich stand vom Boden auf, tränkte ein weißes Handtuch
mit Wasser und band es mir um den Kopf. Ich hatte Angst
einzuschlafen, aber auch im Wachzustand kamen schmerzhaf-
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te Erinnerungen hoch. Erinnerungen, die ich manchmal
wünschte, einfach wegwaschen zu können, auch wenn mir
bewusst ist, dass sie ein wichtiger Teil meines Lebens sind; diese Erinnerungen machen mich zu dem, der ich jetzt bin.
Ich blieb die ganze Nacht wach, wartete ängstlich auf das Tageslicht, damit ich in mein neues Leben zurückkehren und das Glück und die Freude wiederentdecken konnte, die ich
als Kind gekannt hatte und die selbst durch Zeiten hindurch, in denen es schon eine Qual war, überhaupt am Leben zu
sein, in mir lebendig geblieben waren. Heute lebe ich in drei Welten: meinen Träumen, meinem neuen Leben mit seinen
Erfahrungen und meinen Erinnerungen aus der Vergangen-
heit, die diese wachrufen.
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Wir blieben länger als erwartet in Mattru Jong. Wir hatten nichts von unseren Familien gehört und wussten nicht, was wir machen sollten, außer zu warten und zu hoffen, dass es ihnen gutging.
Wir hörten, die Rebellen hätten ihr Lager in Sumbuya
aufgeschlagen, einer Stadt gut 30 Kilometer nordöstlich von Mattru Jong. Dieses Gerücht wurde schon bald zur Gewissheit, als Leute, deren Leben von den Rebellen während der Massaker in Sumbuya verschont geblieben war, Briefe der
Rebellen überbrachten. Die Briefe setzten die Menschen in Mattru Jong nüchtern davon in Kenntnis, dass die Rebellen kommen würden und erwarteten, freudig begrüßt zu werden,
denn schließlich kämpften sie für uns. Einer der Boten war ein junger Mann. Man hatte ihm mit einem heißen Bajonett
die Initialen RUF (Revolutionary United Front) in die Haut gebrannt und ihm mit Ausnahme der Daumen alle Finger
abgehackt. Die Rebellen nannten diese Form von Verstüm-
melung »one love«. Vor dem Krieg hatten die Menschen ei-
nen Daumen hochgehalten und einander »one love« zugeru-
fen, ein Ausdruck, der durch die Liebe und den Einfluss der Reggaemusik populär geworden war.
Als die Menschen die Botschaft des unglücklichen Boten
erhielten, versteckten sie sich noch in derselben Nacht im Wald. Khalilous Familie aber hatte uns gebeten zu bleiben und ihnen, wenn es an den
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