Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
die Sache endgültig abschließen. »Er sagt, sie ist gestresst und unglücklich. Nicht nur wegen des Spiels, sondern generell. Sie hat alle möglichen Probleme. Du musst dich also nicht unterlegen fühlen. Klingt eher so, als ob Lola dich beneidet.«
Diese gezielte Unwahrheit wirkte wie Seelenbalsam auf Kirsty, und ihr Gesicht leuchtete auf. So wertvoll auch die Sentenzen über ein starkes Selbstbewusstsein und die Warnungen vor schädlichen Vergleichen waren, ich hätte gleich daraufkommen müssen, dass nichts ein schwaches Ego so sehr aufbaut wie Nachrichten über die Schwierigkeiten des Rivalen. Vielleicht musste Kirsty, um ihre Gegnerin zu schlagen, lediglich wissen, dass auch Lola unter Ängsten und Unsicherheit litt (was ungeachtet meiner kleinen Flunkerei zweifellos zutraf), andererseits brauchte sie vielleicht eine stärkere Rückhand oder eine offensivere Spielweise. Ich hatte beide noch nie auf dem Platz gesehen, und wenn der technische Abstand einfach zu groß war (was die 0:14-Serie nahelegte), dann konnte Kirsty morgen auch bei stärkster psychischer Verfassung nur ein Wunder zur Goldmedaille verhelfen. Doch als sie mit begeisterten Dankesworten aufstand, vertraute ich darauf, ihr zu einer leicht veränderten Sichtweise von Erfolg und Misserfolg verholfen zu haben, die sich nicht in der Bilanz von Siegen und Niederlagen erschöpfte.
Ein ereignisreicher Nachmittag lag hinter mir. Zuerst waren große Brocken meiner fachlichen Selbstachtung davongeschwemmt worden, und erst in der letzten Stunde hatte ich einiges davon wieder zusammenkratzen können. Wenn ich nun noch Frieden mit Webster schloss, nachdem ich ihn als Punchingball benutzt hatte, würde ich für den Tag letztlich doch ein positives Fazit ziehen können. Aber Webster und Macguire waren nirgends im Dorf zu finden, weder in ihrem Haus noch im Gemeinschaftsraum, wo kleine Gruppen von Sportlern saßen und sich leise unterhielten. Der Anblick ihrer schläfrigen Gesichter und der flackernde Fernsehschirm machten auch meine Lider schwer, und als ich auf mein Zimmer wankte, fragte ich mich, ob ich Webster vor seinem Finale (das als Highlight auf den Abend gelegt worden war) noch einmal sehen und wie sich Kirsty in ihrem Match schlagen würde.
Passenderweise war die Luft am Finaltag noch drückender und schwüler; der Himmel, der die Woche über dunkelblau gestrahlt hatte, war weiß. Als ich mich noch benommen von einem langen Schlaf voller unheilvoller, halb erinnerter Träume dem Stadion näherte, drängten sich schon überall die Zuschauer. An jeder Ecke kündigten riesige elektronische Anzeigetafeln die beiden Wettkämpfe an, die über das Schicksal meiner zwei Patienten und den Erfolg meiner Bemühungen entschieden: 13.00 UHR FINALE DAMENTENNIS und, einige Rennen und Slogans später, 21.00 UHR 100- METER - FINALE HERREN : UNTERSTÜTZT VON EAST COAST AIRLINES , DENN DAS LEBEN IST ZU KURZ FÜR LANGES WARTEN . Es ging bereits auf Mittag zu. Kirsty sann wohl gerade noch einmal über unser Gespräch nach, während sie in einem abergläubischen Ritual zwei- und dreimal die Bespannung des Schlägers und andere Ausrüstungsgegenstände prüfte. Bestimmt bemühte sie sich, jeden Gedanken an ihre Gegnerin abzublocken, die nur durch die dünne Wand einer Umkleidekabine von ihr getrennt war. Bevor ich den Weg zu den Tennisplätzen einschlug, suchte ich noch in aller Eile den Stadionbereich ab und fand Macguire auf der Übungsbahn, wo er in aller Ruhe zwei von Websters Konkurrenten beim Aufwärmen zusah.
»Webster schläft noch.« Wie immer bot er mir eine Zigarette an, obwohl ihm längst bekannt war, dass ich nicht rauchte. »Er hat mich gebeten, ihn ausschlafen zu lassen …«
»Hat er was über gestern Nachmittag erzählt?«
»Nur, dass es eine Auseinandersetzung gab.« Maguire setzte ein wissendes Lächeln auf. »Aber anscheinend hat ihn das nicht weiter belastet. Er war ganz unbesorgt. So gefasst wie die ganze Woche noch nicht.«
Gute Nachrichten also, dennoch hätte ich viel dafür gegeben, Webster kurz zu sehen und mich für meine übertriebene Reaktion auf sein zufälliges Auftauchen am Vortag zu entschuldigen. Je mehr ich über den Vorfall selbst nachdachte, desto schlimmer die Kritik, die ich von den Schulanalytikern in meinem Kopf einstecken musste. Die Feindseligkeit war Webster deutlich ins Gesicht geschrieben gewesen, als er mich vor Richard beschimpfte und abschüttelte; aber jetzt in meiner Rekonstruktion war sein Gesicht weg, und ich
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