Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Vielleicht war es meine Schuld, dass er die Einnahme seiner Tabletten auf nicht ganz reguläre Weise unterbrochen hatte, aber das war eben die einzige Möglichkeit für ihn, an dem Wettkampf teilzunehmen. Ich hatte meinen Ruf aufs Spiel gesetzt, um eine abgespeckte Behandlung zu finden, die seinen Bedürfnissen entsprach, und zum Dank für diesen mutigen Schritt stellte er mich in aller Öffentlichkeit und – was der Gipfel war – vor Richard bloß. In wenigen Sekunden hatte sich Webster in den Sündenbock für Jahre der Frustration verwandelt. Er bekam die volle Breitseite ab.
»Du willst überhaupt keine Hilfe, oder?«
»Doch, schon, aber …«
»Du willst lieber eine Szene machen.«
»Ich weiß nicht mehr, was vorhin los war …«
»Natürlich weißt du es. Ich stand direkt vor dir. Du wolltest beweisen, dass du mich blöd aussehen lassen kannst. Gratuliere, das ist dir gelungen. Ich sehe blöd aus, weil ich dachte, dass ich was für dich tun kann. Aber ich kann nur jemandem helfen, der sich auch helfen lassen will.«
Webster zuckte die Achseln, sein altes Markenzeichen.
Das stachelte mich noch mehr an. »Ich weiß genau, was dir fehlt – du hast Angst zu gewinnen, Angst, dass die Sache endlich gut für dich ausgehen könnte. Du watest lieber zurück in deinen alten Morast, weil du dich so an deine Probleme gewöhnt hast, dass du gar nicht mehr weißt, wie du ohne sie leben sollst. Habe ich recht?«
Achselzucken.
»Sag mir, dass ich recht habe.«
Achselzucken.
Ohne eine Antwort drohte meiner Wut die Luft auszugehen. »Webster, interessiert es dich überhaupt, was ich sage?«
Erneutes Achselzucken von Webster, der jetzt nicht existierenden Schmutz von seinen Fingernägeln entfernte. Je mehr ich mich echauffierte, desto weniger nahm er von mir Notiz.
Ich sammelte alle Kräfte für einen letzten melodramatischen Schlag. »Dann sehe ich auch nicht ein, warum ich mich dafür interessieren sollte, was du sagst.« Ich sprach die Worte mit Nachdruck, als hätte ich damit den Streit für mich entschieden.
Er war immer noch mit seinen Fingernägeln beschäftigt und vertieft in Gedanken, die mir von nun an vielleicht für immer verschlossen bleiben würden, als ich ihn im Büro sitzen ließ.
Als die allmähliche Einsicht, dass ich wohl einen Fehler gemacht hatte, auf die Reste von Zorn nach einem Nachmittag voller Demütigungen traf, wuchs in mir eine klamme, schwärende Ahnung drohenden Unheils. Ich rief Macguire an, doch er nahm nicht ab; fast hätte ich es zu Hause in England probiert, aber dann fiel mir ein, dass meine Eltern tot waren; ich wählte sogar Lilys Nummer (sie war inzwischen wieder in London, trat in Les Misérables auf und hatte den schlaksigen Schauspieler namens Liam geheiratet), die ich von einer Weihnachtskarte abgerissen hatte, legte allerdings wieder auf, bevor es klingeln konnte. Ich machte einen Spaziergang, um mir ein wenig Erleichterung zu verschaffen, aber so wie früher einmal im Central Park auch die unbedeutendsten Hinweise einen Weg zum Glück markiert hatten, so schien nun jede Belanglosigkeit Teil eines gegen mich gerichteten Plans. Der geringste Vorfall ließ meine Wut und Verzweiflung wieder aufflammen, als würde Salz in eine offene Wunde gestreut, und mit Bestürzung erkannte ich endlich das Ausmaß der negativen Energie, die ich verdrängt hatte. Als ein kleiner Hund kläffend meinen Weg kreuzte und verspielt an meinen Zehen schnupperte, konnte ich nur mit Mühe das Verlangen unterdrücken, mit dem Bein auszuholen und ihn wie einen Football hoch über die Hecke zu treten.
Später im Büro wartete ich auf Kirsty, deren Finale wie das von Webster morgen stattfand. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte.
Das Treffen mit ihr begann höflich, aber schon nach kurzer Zeit brachte mich ihr Benehmen – ein stolzer Mangel an Selbstwertgefühl, ein triumphierender Pessimismus – zur Weißglut.
»Wieso bist du eigentlich so auf Lola fixiert?«, fuhr ich sie an, kaum dass sie den Namen ihrer Rivalin zum ersten Mal erwähnt hatte.
Kirsty schrumpfte auf ihrem Stuhl. »Na ja, weil ich morgen gegen sie spiele und sie die Beste ist und … das wissen Sie ja schon … weil sie so schön ist …«
»Da haben wir’s, weil sie schön ist!« Jetzt brüllte ich schon fast. »Das ist absoluter Quatsch! Du findest sie schön, weil dir die Leute das erzählen …«
»Wonach soll ich mich denn sonst richten?«
»… weil dir die Leute das erzählen und weil sie aussieht wie
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