Rügensommer
noch eine ganze Weile darüber, wie wenig greifbar Kunst war, wie leicht man vermeintliche Kenner aufs Glatteis führen konnte.
»Die Hauptsache ist doch, dass es gefällt«, stellte Silvio unbekümmert fest. »Auch wenn die Kreidemännchen aus China kommen.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Deike riss die Augen auf und musste an Natty denken.
»Nein, ich weiß nicht, aber es wäre möglich. Na und? Ist das nicht egal? Sie werden gekauft und machen den Leuten Freude.«
Es tat gut, mal wieder mit jemandem zu klönen und zu lachen.
»Willst du meine Segelboote mal sehen? Es ist nicht weit.«
»Vielleicht ein anderes Mal. Ich will gleich nach Stralsund, ich muss ein paar Dinge kaufen, die ich auf der Insel nicht bekomme.«
»Solche Dinge gibt es nicht. Auf Rügen kriegst du alles.«
Sie lachte auf. »Man muss nur wissen, wo.«
Er nickte.
»Halte mich für blöd, aber ich will mal wieder Festland unter den Füßen spüren. Ich bin seit ungefähr zwei Monaten nicht mehr drüben gewesen. Ich muss mich einfach davon überzeugen, dass der Rest der Welt noch an Ort und Stelle ist.«
»Das ist gar nicht blöd. Du bist nicht blöd.« Silvio fuhr sich durch das beinahe bläulich glänzende schwarze Haar, das heute ausnahmsweise nicht unter einer Kappe steckte. »Okay, also ein anderes Mal. Wann?«
Wieder musste sie lachen. Flirtete er etwa mit ihr? Womöglich sollte sie es auf eine Affäre anlegen, das würde sie endgültig von Hannes ablenken. Sie tauschten Telefonnummern aus, das war immerhin ein Anfang und ließ ihr noch ein wenig Bedenkzeit.
16.
Wieder verstrichen die Tage, ohne dass Deike und Hannes ein Wort gewechselt hätten. Die Vorhänge in seiner Haushälfte waren zugezogen, es rührte sich nur selten mal etwas. Bis zu dem einen Abend, als sie gerade vor dem Fernseher eingenickt war und von Klirren und Poltern geweckt wurde. Sie musste sich kurz orientieren, dachte schon, jemand sei in ihre Wohnung eingebrochen. Dann erkannte sie die Stimme von Hannes und die einer Frau. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, nur einzelne Worte, die jedoch keinen Zusammenhang ergaben. Ihr Herz begann zu klopfen. Die Frauenstimme überschlug sich, im nächsten Moment ertönte ein Jammern, das klang, als jaule ein Tier, und Deike eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Sollte sie doch mit Norman Bates oder einem ähnlich gestörten Typen Tür an Tür wohnen und in diesem Moment Zeugin seines nächsten Verbrechens werden? So ein Unsinn!Sie sprang auf, überlegte, was zu tun sei. Sich direkt einzumischen kam nicht infrage. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen. Wenn sie nichts unternahm, würde sie sich Vorwürfe machen müssen, wenn man irgendwann eine Frauenleiche in seinem Garten ausbuddelte. Sie würde sich fragen lassen müssen, warum sie weggesehen hatte. Ja, sie musste eingreifen, das stand fest. Andererseits brauchte sie eventuell doch nicht gleich zu den ganz harten Bandagen greifen. Sie könnte auch Herrn Duschel als Verstärkung anfordern. Der hatte neben seiner Kreissäge bestimmt noch mehr Werkzeug, das sich leicht zur Waffe umfunktionieren ließe.
Sie lauschte. Es war still geworden nebenan. Zu spät. Er hatte etwas Schreckliches getan. Deike schlich vorsichtig ins Bad, wo sie eindeutig die beste Akustik hatte, in Bezug auf die Nachbarwohnung jedenfalls. Sie hörte noch immer Stimmen, sehr gedämpft jetzt, aber noch immer zwei verschiedene. Nun gut, Norman Bates hatte auch mit verstellter Stimme die Rolle seiner Mutter übernommen, nachdem er diese umgelegt hatte, aber das schloss sie jetzt mal aus. Allmählich normalisierte sich ihr Herzschlag, und sie entschied, dass sie doch nichts zu unternehmen brauchte. Sie schaltete den Fernseher aus, der ihr ohnehin gerade mit Werbung auf die Nerven ging.
Als sie sich kurz darauf die Zähne putzte, um ins Bett zu gehen, hörte sie einen Wagen vor dem Haus anhalten. Sie spülte sich eilig den Mund und lief in die Küche, von wo sie zumindest einen Teil der Straße sehen konnte. Da stand ein Taxi. Nebenan wurde die Tür geöffnet. Gleich darauf sah sie Hannes, der eine Frau im Arm hielt und zum Taxi führte. Sie trug ein altmodisches Sommerkleid und wirkte darin unförmig und pummelig. Als sie ihr Gesicht Hannes zuwandte, erkannte Deike die blasse Frau aus der Klinik in Wiek. Unglaublich, siemusste in den letzten Wochen zehn Kilo zugenommen haben oder noch mehr. Deike sah von ihrer dunklen Küche zu, wie Hannes mit dem Taxifahrer sprach, die
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