Rütlischwur
Zermatt …«
Corina drehte sich um, legte ihre Hand auf Eschenbachs Mund und vollendete den Satz: »Und siehe da«, sagte sie. »Der kleine italienische Zinken ist plötzlich doch der Berg, für den du ihn niemals gehalten hättest.«
Der Kommissar nickte. »Kennst die Geschichte also doch?«
»Die Wahrheit hat viele Seiten …«, meinte seine Frau. »Das hast du mir schon hundertmal erzählt.«
»Aber diesmal hab ich’s nicht gesehen, Corina. Ehrlich. Diesmal nicht. Ich hätte ihr glauben sollen, als wir aufs Rütli gefahren sind. Es war tatsächlich Notwehr gewesen. Jetzt weiß ich es.«
»Du sprichst von dieser Judith, oder?«
»Ja.«
Corina zog eine Packung Käse aus dem Gefrierfach. »Ich mach uns jetzt ein Fondue, und du erzählst mir die ganze Geschichte von Anfang an.«
»Ein Fondue im Oktober?«
»Tu nicht so«, sagte seine Frau. »Jetzt, wo wir sozusagen schon in Zermatt sind.« Corina hatte das Caquelon bereits auf den Herd gestellt. Nun durchstöberte sie ein Kästchen nach dem andern auf der Suche nach Brennsprit. »Man sollte tun, wozu man Lust hat. Sagst du doch auch immer … Zudem ist es das Einzige, was mir in Kanada wirklich gefehlt hat: geschmolzener Käse … und du natürlich.«
Als es draußen auf der Terrasse kühl wurde, holten sie Decken und mummelten sich ein. Eschenbach war mit der Geschichte noch nicht ganz fertig, als Corina ihn unterbrach. Es war an der Stelle, als Judith ihm auf der Schiller den Scheck überreicht hatte.
»Eine Million«, wiederholte Corina. »Den hast du hoffentlich noch?«
Der Kommissar hielt einen Moment inne. Er genoss den Augenblick, zögerte ihn noch etwas hinaus. Wann hatte seine Frau ihn das letzte Mal so angesehen: mit halbgeöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen?
»Ich hab den Scheck verloren«, sagte er.
»Du hast was?«
Corina war nun geradezu hinreißend hübsch, fand der Kommissar. Ihre dunklen Augen funkelten im Kerzenlicht. Noch während sie aufstand, riss sie sich die rote Decke von den Schultern und warf sie in hohem Bogen über die Balkonbrüstung. Wie eine Flamencotänzerin in Ekstase richtete sie sich vor ihm auf.
»Okay, okay …«, begann er. Gerade noch rechtzeitig, bevor aus der Tänzerin eine Furie wurde. »Ich erzähl dir, was ich wirklich damit gemacht habe.«
Er brauchte viele Worte, eine Menge Weißwein und Kirsch, bis sich Corina einigermaßen beruhigt hatte. Und selbst dann, als beide schon einiges intus hatten, als Eschenbach Corinas Decke von der Straße wieder hinauf in die Wohnung geholt und ihr die zärtlichsten Dinge zugeflüstert hatte: So ganz hundertprozentig wollte sie sich mit seiner Entscheidung nicht abfinden. Es kamen Sätze wie: »Du hättest mich wenigstens fragen können.« Oder: »Die Hälfte hätte auch gereicht.« Und dass es nie schlecht sei, etwas auf der hohen Kante zu haben.
Seine Frau hatte recht, dachte der Kommissar. Wer wusste schon, welchen Zeiten sie entgegenschlitterten. Schon jetzt bezahlten die Banken keine Zinsen mehr, und wer Aktien kaufte, konnte zusehen, wie die Papiere innerhalb der Wochenfrist nur noch die Hälfte wert waren.
Aber diese Probleme hatte er nun gelöst. Denn es gab auch in diesen Tagen Menschen, die mit Geld wirklich etwas anzufangen wussten.
»Wir werden schon nicht verarmen«, knurrte er.
Aber konnte er sich dessen sicher sein? Angenommen, jeder täte nur Gutes, würde seinen Nachbarn helfen und benähme sich wie ein anständiger Mensch. Keine Diebstähle würden mehr gemeldet werden, keine Vergehen an Leib und Leben. Auf den Straßen führe jeder mit dreißig, fünfzig, sechzig, achtzig, hundert und hundertzwanzig – exakt so, wie es vorgeschrieben war.
Brauchte es dann noch einen Polizisten wie ihn?
Bei diesen Gedanken durchfuhr Eschenbach ein leichter Schauer. Er zog seine Decke bis unters Kinn. Mit dem Kopf in den Nacken gelegt, saß er da und blickte in den Himmel von Zürich.
Epilog
Oder die Sache mit dem Geld
K ann eine Geschichte einfach enden, ohne dass wir wissen, was mit dem Geld geschah? Mit der Million von Eschenbach – oder, was uns noch viel mehr interessieren müsste: mit den Milliarden der Banque Duprey?
Es gibt bestimmt ein Land, in dem so etwas möglich wäre. Vielleicht sogar erwünscht. In einem dieser Weit-weg-Staaten, in denen ungeliebte Diktatoren Unsummen ergaunerter Gelder verstecken. Oder in einem der ominösen Steuerflucht- und Schlupforte, die von internationalen Verbrecherorganisationen so gerne aufgesucht
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