Ruf der Dämmerung (German Edition)
sondern bedrängte sie immer wieder. Viola war bald nur noch auf der Flucht vor ihm. Ainné dagegen setzte auf Hilfe im Haushalt und im Laden, was Viola eigentlich gern tat. Vor allem der Kontakt mit den Campern im Geschäft machte ihr Spaß und sie übernahm auch bald selbstständig die Bestellungen im Roundwood Supervalue, wenn etwas fehlte. Aber die Zusammenarbeit mit Ainné vergällte ihr die Freude daran, so mühelos in dem fremden Land zurechtzukommen. Dads neue Frau war stets mürrisch, bedankte sich nie, sondern stellte immer nur weitere Forderungen. Man konnte auch nicht unverbindlich mit ihr plaudern. Selbst auf die harmlosesten Bemerkungen antwortete sie nur knapp und mit einem vorwurfsvollen Unterton. Natürlich fragte sich Viola, ob sie sich das nicht einbildete. Schließlich war sie von vorneherein entschlossen gewesen, die neue Frau ihres Vaters nicht zu mögen. Aber Patrick gegenüber verhielt Ainné sich genauso und selbst Shawna fuhr sie einmal an, wobei es wieder mal um die Stute Gracie ging. Shawna hätte das Pferd wohl gern geritten, solange Ainné noch schwanger war. Sie argumentierte damit, dass die erzwungene Untätigkeit das Tier so unleidlich werden ließ. Die Kinder der Touristen trauten sich kaum noch auf die Koppel. Aber Ainné wollte absolut niemanden an ihren Liebling heranlassen.
»Dabei besucht sie Gracie nicht mal!«, klagte Shawna, als Patrick die Mädchen am Sonntag vor Schulbeginn wieder mal an dem verschwiegenen Platz hinter dem Bootshaus traf. Auch Viola wusste dieses weder vom Haus noch von den Ställen einsehbare Refugium inzwischen zu schätzen. Heute war sie hierhergeflohen, weil eine Putzaktion in den »Sanitärbereichen« des Campingplatzes anstand. Ainné hätte sie zu gern dazu herangezogen, wobei sie den Ausdruck »Klo schrubben« nie gebrauchte und selbstverständlich stets ihr Lieblingswort Vielleicht mit einbrachte.
»Sie könnte ja mal bei Gracie vorbeischauen und ihr einen Apfel bringen oder so. Aber sie kümmert sich gar nicht um sie, sie will sie nur besitzen …«, führte Shawna weiter aus.
Patrick warf ihr eine Dose Cola zu. »Shawna, Mensch, gibt’s denn hier keine anderen Gäule, die du hätscheln kannst? Bill und Ainné nutzen dich nur aus … Und wenn Gracie morgen ein Touristenblag beißt, bist garantiert du schuld!«
Viola verdrehte die Augen. Auch diese Diskussion war inzwischen nur noch langweilig. Patrick und Shawna führten sie praktisch jeden Tag, aber das Mädchen war einfach zu vernarrt in Bills Ponys, um den Absprung zu schaffen. Viola selbst war zudem überzeugt davon, dass auch Patrick eine Rolle spielte. Wenn Shawna nicht mehr zum Helfen bei den Pferden kam, gab es keinen Grund für sie, den Jungen zu sehen.
»Morgen fängt erst mal die Schule an!«, unterbrach Viola schließlich den endlosen Disput. »Dann hat Shawna gar nicht mehr so viel Zeit, hier zu helfen. Und ich werde mir auch ein paar Ausreden einfallen lassen. So was wie Vielleicht, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig bin?‹.«
Shawna und Patrick lachten.
Die Sache mit dem Schulbus funktionierte reibungslos, er hielt auf die Minute pünktlich vor der Einfahrt zum Campingplatz. Die aufgeregte Viola stand allerdings schon eine Viertelstunde vor der Abfahrt bereit. Sie war seit zwei Stunden wach und zu ihrer Verwunderung hatte das Fertigmachen für die Schule nicht einmal halb so lange gedauert wie zu Hause in Braunschweig. Schließlich brauchte sie sich hier keine Gedanken um ihr Outfit zu machen: In Roundwood trug man Schuluniform! Viola hatte den karierten Rock, die hellgrüne Bluse und den dunkelgrünen Blazer zwar zuerst mit Skepsis betrachtet, dann aber festgestellt, dass die Farben ihr durchaus standen. Sie betonten ihre Augen und den leichten Rotton in ihrem Haar. Blieb die Frage, ob man sich zur Schuluniform schminkte oder nicht. In Braunschweig hatte sie immer etwas Lidschatten und Lippenstift aufgetragen, aber hier ließ sie das lieber. Der Pickel war längst verschwunden, und der Effekt von etwas Farbe war das Risiko nicht wert, gleich am ersten Tag gerüffelt zu werden.
Nun wartete sie nervös am Tor des Campingplatzes, hatte sich allerdings in das Wärterhäuschen geflüchtet, weil es regnete.
Der Busfahrer hupte, als er sie nicht gleich sah, und lächelte ihr zu, als sie sofort beflissen heraustrat. »Du hättest auch im Haus warten können. Ich hupe dich schon raus, nass regnen muss keiner.«
Viola bedankte sich und fühlte sich gleich angenommen – zumal
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