Ruf der Dämmerung (German Edition)
konnte. Die Mädchen aus Roundwood feuerten sie allerdings frenetisch an und schrien sich schon beim Training vor Begeisterung heiser. Bei richtigen Spielen würden sie wohl völlig ausflippen.
Viola mochte es sich kaum eingestehen, aber nach einem halben Tag in der neuen Schule fühlte sie sich einsam. Ihre neuen Mitschüler waren so völlig anders als ihre Freunde in Braunschweig. Keiner von ihnen interessierte sich für Musik, Kino oder Computerspiele – vor allem die Jungen schienen reine Naturburschen zu sein, die das Internet höchstens nutzten, um sich über Football-Ergebnisse zu informieren. Eines der Mädchen spielte Gitarre in einer Folkband und zwei betrieben allen Ernstes Céilí-Dance, eine Art Volkstanz. Sie redeten endlos über ihre Auftritte im örtlichen Theater, wo im Sommer wohl Shows für die Touristen veranstaltet wurden. Eine Disco gab es weit und breit nicht. Shawna vermutete die nächste in Dublin!
Viola fragte nach einem Internetzugang, wobei sich ihre Ahnung, dass die Funkverbindung vor allem im Winter öfter gestört war, als Patrick zugab, schnell bestätigte. Das machte den anderen nicht viel aus, da sie meist keine eigenen Computer besaßen, sondern nur die in der Schule benutzten. Viola fühlte sich jedoch schon im Vorfeld abgeschnitten von der Welt. Immerhin konnte sie in der Mittagspause die fehlenden Teile für ihren Laptop abholen. Wenn es am Nachmittag also nicht stürmen, regnen oder schneien sollte, würde sie Katja am Abend wieder mailen – ein tröstlicher Gedanke!
Am Nachmittag standen neben dem Sport vor allem künstlerische Fächer auf dem Programm. Im Allgemeinen entsprachen die Anforderungen dabei denen in Braunschweig – nur der Musikunterricht fiel aus dem Rahmen. Die Lehrerin, Miss O’Keefe, begrüßte die Klasse nicht am Klavier, sondern an einer Harfe!
»Ganz typisch für Irland«, wisperte Shawna, als sie Violas Verwunderung bemerkte. »Hast du nicht gesehen, sogar auf unseren Geldstücken sind Harfen abgebildet. Und Miss O’Keefe ist eine richtige Künstlerin, sie gibt Sommerkurse …«
Miss O’Keefe sah zumindest hinreißend aus. Sie war recht jung und entsprach dem Bild der irischen Rose noch mehr als Ainné, zumal sie keinen mürrischen Gesichtsausdruck spazieren trug, sondern sich ehrlich auf ihren Unterricht zu freuen schien.
»Wir werden uns in diesem Jahr zunächst mit der Child-Liedersammlung beschäftigen«, erklärte sie eifrig, »Und die englischen und schottischen Balladen mit irischem Liedgut vergleichen …«
Begeistert berichtete Miss O’Keefe, wie Francis James Child im neunzehnten Jahrhundert Lieder und Balladen gesammelt und analysiert hatte. Dann sang sie der Klasse ein Beispiel vor, ein melancholisches kleines Lied, das von der Liebe einer sterblichen Frau zu einem seltsamen Zwitterwesen erzählte.
»I am a man upon the land, I am a silkie on the sea …«
Miss O’Keefes Stimme zur Harfe klang so eindringlich, dass man das traurige Silkie fast vor sich sah. An Land kam es in Menschengestalt, aber seine Heimat war das Meer, in dem es als Seehund lebte. Und nun forderte es das Kind seiner menschlichen Geliebten, um es mit in die See zu nehmen.
Shawna hatte richtiggehend Tränen in den Augen, als Miss O’Keefe endete.
»Die Legende vom Silkie ist vor allem in Schottland verbreitet, aber man kennt sie auch hier und auf den Aran-Inseln«, holte die Lehrerin ihre Klasse in die Gegenwart zurück. »Und die Liebe einer Menschenfrau zu einem Unsterblichen – ja selbst einem Ungeheuer – ist ein Motiv, das sich durch die gesamte Musik und Weltliteratur zieht. Weiß einer, was wir unter Motiv verstehen?«
Jennifer, die Gitarristin, meldete sich. »Eine kleine Melodie, die im Lauf eines Musikstücks variiert wird«, erklärte sie.
Miss O’Keefe nickte. »Und in der Literatur ein Thema, das immer wieder auftritt. Denkt bei unserem Beispiel etwa an ›Die Schöne und das Biest‹ oder …«
»In meinem Lieblingsbuch verliebt sich das Mädchen in einen Vampir!«, erklärte ein rundliches Mädchen namens Bridget.
Die anderen lachten.
»Richtig, Bridie!«, lobte Miss O’Keefe. »Woran ihr seht, dass man dieses Motiv bis in die ganz moderne Jugendliteratur verfolgen kann.«
In den nächsten Minuten überboten sich die Schüler damit, die seltsamsten Paare in Filmen, Musicals und Büchern aufzuzählen, und amüsierten sich königlich darüber, dass Shawna riesengroßen Affen zum Beispiel überhaupt nichts abgewinnen konnte.
»Wenn
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