Ruf der Dämmerung (German Edition)
einen dunklen Tunnel gezerrt zu werden. Ihre Knie wurden weich, sie verspürte leichte Übelkeit und ihr Kopf schien mit Watte gefüllt. Eine Kreislaufschwäche – Viola hatte das mit elf oder zwölf schon mal gehabt, als sie einfach zu schnell gewachsen war. Einmal war sie sogar in Ohnmacht gefallen. Aber jetzt war das doch lange vorbei …
»Entschuldige … Bitte entschuldige …« Über Alistairs hübsches Gesicht flog leichte Röte, um dann einer wächsernen Blässe zu weichen. »Ich wollte wirklich nicht … wirklich … Pass gut auf deinen Stein auf, Viola! Nimm ihn nicht ab! Nicht hier am See. Und trag ihn auf der Haut, nicht über deinen Sachen. Dann kann so etwas nicht passieren. Ich werde nicht … Ich würde nie … aber … Tut mir wirklich leid …«
Der Junge suchte erkennbar Abstand zu Viola, was sie wieder befremdete. Wenn jemand anders stolperte, half man ihm doch auf, reichte ihm die Hand, stützte ihn. Aber Alistair wirkte nur bestürzt und schuldbewusst. Dazu dieses seltsame Gerede … Oder war sie nur zu weggetreten, um den Sinn seiner Worte zu erfassen?
Viola atmete tief ein und aus und fand langsam in die Wirklichkeit zurück. Sie fühlte sich noch etwas wackelig, aber auch das gab sich schnell, als sie sich auf einen Baumstumpf setzte, den Ali ihr wies. Guinness kam zu ihr, ließ sich streicheln und bellte Ali an, als der sich, anscheinend wieder ohne Kälte und Nässe zu spüren, auf dem Gras zu ihren Füßen niederließ. Er spielte mit ein paar kleinen Steinen, ließ sie geschickt von einer seiner Hände in die andere wandern. Viola war voller Fragen – und wusste doch keine einzige zu stellen. Und sie war voller Angst. Um Alistair? Oder um sich selbst? Aber das war Blödsinn, Kreislaufstörungen waren nichts Dramatisches. Alistair dagegen wirkte jetzt ernstlich krank.
»Viola … «, sagte er irgendwann, fast flüsternd. Seine Stimme gab ihrem Namen einen seltsamen Klang. »Viola, hast du schon mal etwas Schlimmes getan? Etwas … etwas wirklich Schlimmes?«
Er sah zu Boden.
Viola runzelte die Stirn. Worauf wollte er hinaus? Dann dachte sie nach.
»Na ja, das tun wir doch alle mal, oder?«, fragte sie zurück. »Also ich … in der Grundschule hatten wir einen kleinen, dicken Jungen, den haben wir immer gehänselt. Und einmal habe ich ihm seine Sachen geklaut, als wir Schwimmen hatten. Das war ziemlich gemein, er musste in der nassen Badehose herumrennen und suchen, und alle haben ihn ›Nilpferd‹ genannt. Und letztes Jahr haben Katja und ich einer Mitschülerin einen ziemlich fiesen Streich gespielt. Sie …«
Alistair winkte ab. Er versuchte dabei zu lächeln, aber schaffte es nicht. »So was meine ich nicht. Ich meine etwas … etwas wirklich Schlimmes. Was … was normalerweise … hm … also etwas, gegen das ihr Gesetze habt …«
Viola stolperte erneut über die Formulierung. Glaubte Alistair, für ihn gälten andere Gesetze? Im letzten Jahr hatten sie in der Schule über Subkulturen gesprochen, die andere Ehrauffassungen und eigene Gesetze hatten. Ob Ali zu den Tinkers, dem fahrenden Volk in Irland, gehörte? Das würde einiges erklären.
»Als Kind hab ich mal … einen Schokoriegel geklaut«, gestand sie. »Na ja, mehr als einmal. Erst beim dritten Mal oder so haben sie uns erwischt, Katja und mich. Das war ein ziemliches Theater, meine Eltern haben sich furchtbar aufgeregt und ich bekam zwei Wochen lang kein Taschengeld …«
Alistair seufzte. »Das ist auch nicht so schlimm … «, meinte er dann. »Aber manchmal … ich meine … wenn dein Leben davon abhinge – und das deiner Familie –, würdest du dann etwas Schlimmes tun? Etwas wirklich Schlimmes?«
Viola erschrak jetzt ernstlich. Was meinte er? Einen Mord? »Du meinst, ob ich jemanden umbringen würde?«, fragte sie tonlos. »Eigentlich … also eigentlich nicht, das könnte ich mir nicht vorstellen. Aber andererseits …« In den Büchern, die sie las, geschahen Morde oft aus Liebe. Was wäre, wenn sie jemanden wirklich liebte? Könnte sie dann nicht töten, um ihn zu befreien oder sonst wie zu retten? In Historienschmökern fand sie es normal und sogar ganz romantisch, wenn der Ritter auszog, um seine Geliebte aus den Klauen irgendwelcher Gauner zu befreien, oder wenn sie ihr Leben opferte, um ihn zu retten. Aber in Wirklichkeit?
»Wenn dein Leben bedroht würde …«, überlegte sie, »und du bringst denjenigen um, der es tut, dann wäre es doch Notwehr, nicht? Ich glaube, in Notwehr darf man alles
Weitere Kostenlose Bücher