Ruf der Daemmerung
gehen, lohnte nicht mehr und ein Spaziergang mit Guinness war durchaus verlockend. Obwohl Ahi sich am helllichten Tage sicher kaum würde sehen lassen.
Letzteres erwies sich als Trugschluss. Tatsächlich war Viola kaum eine Meile weit am See entlanggelaufen, als sie zwei Pferde auf einer Weide oberhalb des Baches stehen sah, der von Bayview House in den See floss: ein silbergrauer Hengst und eine dunkelgraue, rassige Stute. Lahia ... Viola überlegte schon, ob sie umdrehen sollte, aber dann schienen die Pferde sie zu bemerken.
Die Stute zögerte kurz, verzog sich dann aber in Richtung Berge, als der Hengst kurz die Ohren anlegte. Der Silberschimmel trabte dagegen abwärts, folgte dem Bach und verschwand hinter einem kleinen Wasserfall, der in der Sonne so flirrend leuchtete und tausend Lichtpfeile zu bündeln schien, dass Viola wie geblendet war. Sie schloss kurz die Augen - und erblickte Ahi durch den Bach auf sie zukommen, als sie sie wieder öffnete.
»Viola ...« Er strahlte und hob die Stimme, um das Rauschen des Wasserfalls zu übertönen. »Ich hörte die Musik des Wassers und ich dachte an deinen Namen. Ich sah das Herbstlaub und dachte an die Farbe deines Haars. Ich nahm den Duft der Wiesen auf und meinte, deinen Atem zu spüren. Aber ich hätte nie gedacht, dich zu treffen. Was machst du hier um diese Zeit. Musst du nicht zur - Schule?«
Er sprach das Wort Schule aus, als sei es für ihn nicht von allzu viel Sinn erfüllt.
Viola lachte und fühlte sich glücklich, wach und voller Lebensfreude. Sie nahm seine Hände und verband sich so selbstverständlich mit ihm, als öffne sich ein lang verschlossenes Tor, das die Welt in zwei Hälften geteilt hatte.
Ahis Lippen flogen für den Hauch eines Kusses über ihre Wange und sie legte die Hand auf seine und spürte die Kühle und Glätte seiner Haut.
»Was machst du hier?«, stellte sie dann die Gegenfrage. »Ich dachte ... ich dachte, ihr verlasst den See nur in der Dämmerung.«
Ahis schöne Augen, heute leuchtend blau schimmernd wie der See selbst, spiegelten Verwunderung.
»Hältst du uns für Geschöpfe der Nacht?«, erkundigte er sich. »Fürchtest du uns deshalb? Aber es ist nicht so. Die Sonne ängstigt uns nicht, im Gegenteil, wir lieben sie. Aber es ist nicht leicht, ungesehen zu kommen und zu gehen, wenn der Tag so klar ist wie heute ...«
»Und es ist leichter, müde Wanderer nach einem langen Tag auf der Straße zu einem Ritt zu verführen als am Morgen nach erfrischendem Schlaf ...« Viola meinte fast, Lahias schöne, aber spöttische Stimme zu hören. War sie durch Ahi auch mit ihr verbunden? Oder zählte Violas eigener Geist eins und eins zusammen, nachdem sie so viel über Kelpies gelesen hatte? Viele ältere Legenden erzählten davon, dass erschöpfte Wanderer zu den bevorzugten Opfern der Amhralough zählten.
»Wie macht ihr das überhaupt?«, erkundigte sie sich, jetzt wieder etwas streitlustiger. Wenn sie Ahi in seiner menschlichen Gestalt sah und berührte, verspürte sie grenzenloses Vertrauen, aber sobald er sie an seine Existenz als Kelpie erinnerte, regte sich wieder Missbilligung. »Dieser Gestaltwechsel ... das ist unheimlich. Welches ist überhaupt eure wahre Gestalt?«
Sie mochte nicht daran denken, womöglich in ein Pferd verliebt zu sein, das sich nur als Junge tarnte.
Ahi schien angestrengt nachzudenken. »Wie meinst du das? Wahre Gestalt?«, fragte er schließlich.
Viola verdrehte die Augen und ließ seine Hände los. Es fiel ihr sofort leichter, wieder klar zu denken, aber gleichzeitig empfand sie Verlust und Bedauern.
»Na, wie seht ihr wirklich aus?« Viola versuchte, sich an Gestaltwandler aus Fantasy- oder Science-Fiction-Filmen zu erinnern. »Wenn ihr schlaft zum Beispiel ...« Mitunter brauchten die Wesen in den Filmen alle Konzentration dafür, ihre menschliche Gestalt aufrechtzuerhalten, und verwandelten sich in eine Art Gallertmasse, wenn sie schliefen. Der Gedanke war allerdings noch unheimlicher als die Vorstellung, Ahi suche zur Nachtruhe einen Stall auf. »Wie werdet ihr geboren?«, hakte sie nach.
Ahi lächelte verstehend. »Ich bin Amhralough ...«, meinte er dann würdevoll. »Aber als solcher verbunden mit einer beagnama. Beagnama ist unser Name für die Kleinen Seelen ...«
»Die wir Tiere nennen?«, erkundigte sich Viola.
Ahi nickte.
»Die Kleinen Seelen, die ihr Pferde nennt«, sprach er dann weiter, »leben manchmal bei den Menschen, aber manchmal auch frei in den Bergen, und dort haben sie
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