Ruf der Geister (German Edition)
blickte auf, als er registrierte, dass Joshua ihn erkennen konnte. Die Konturen des Kindes waren verschwommen.
Schluss jetzt! , brüllte Joshua innerlich. Er musste seine Gabe ausblenden, sonst würde er noch wahnsinnig werden. Er konzentrierte sich, suchte nach seinem inneren ›Knopf‹ und schaltete alle Geister auf unsichtbar. Schon vor Jahren hatte er dies gelernt, aber es gelang ihm stets nur für kurze Zeit.
Joshua wollte nur noch fortlaufen! Er atmete tief ein und rannte über die Ebene.
„Du gibst mir das jetzt!“
„Aber ich wollte mir doch …“
„Du willst dir nur doofe Sticker kaufen!“, blaffte das Mädchen.
Der Junge duckte sich und gab ihr sein Taschengeld. Tränen standen in seinen Augen. Er rannte über den Schulhof in eine verschwiegene Ecke, damit seine Freu nde nicht sahen, wie er weinte. Warum kreuzte seine Schwester auch hier auf?! Sie hatte in der Grundschule nichts zu suchen. Er wünschte sich, dass er einfach in einem dunklen Abgrund verschwinden könnte – nie wieder hervorkommen.
Später stocherte er zu Hause in seinem Mittagessen herum. Jeglicher Appetit war ihm vergangen. Er hörte die freundlichen Ermahnungen seiner Eltern nur halb, war mit seinen Gedanken weit weg.
„Ich hab keinen Hunger“, murmelte er schließlich und schob den Teller von sich. Der Junge schlurfte in das Zimmer, das er sich mit seiner Schwester teilte.
Diese kam herein, ließ sich auf ihr Bett fallen und nahm sich ein Buch.
„Hol mir mal was zu trinken.“
Der Junge schüttelte den Kopf und versuchte, sie zu i gnorieren.
„Du holst mir jetzt was zu trinken!“
„Hol dir das doch selbst“, wagte der Kleine zu rebellieren.
Seine Schwester fuhr auf, der Junge wich zurück. Sie stieß ihn an die Wand, ihre Hand klammerte sich um seine Kehle.
„Du holst mir was!“
Panik stieg in dem Jungen auf. Er bekam keine Luft!
Nach für ihn endlosen Sekunden ließ sie von ihm ab, sah ihn drohend an. Der Junge lief aus dem Raum und besorgte ihr eine Cola.
Nie mehr hervorkommen, dachte er und verbarg sich in seinem Bett.
KALTE ZEITEN
Am nächsten Morgen schleppte sich Joshua schlaftrunken zu seinem Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Ein brauner Umschlag fand sich zwischen einigen Werbezetteln. Nur sein Name stand darauf. Ein Stich fuhr ihm in die Brust und seine Hände zitterten leicht, als er Erichs Schrift erkannte. Er nahm alles an sich und ging langsam die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.
In dem gep olsterten Brief lagen Lisbeths Spritze und eine Notiz.
Hallo Josh,
auf der Spritze sind nur Lisbeths Abdrücke, deshalb war es kein Problem, sie dir zukommen zu lassen. Die Ermittlungen sind abgeschlossen. Es war Selbstmord. Ich meldʼ mich.
Erich
Joshua wagte noch nicht die Spritze herauszuholen und öffnete die Dose mit Instantkaffee, wartete auf den Wasserkocher, der Geräusche von sich gab, als würde sich ein Sturm nähern. Lisbeth wollte sich nicht aus seinen Gedanken verdrängen lassen und Joshua rieb sich über das Gesicht, als könne er sie so vertreiben, was ihm nicht gelang. Mit einem bitteren Geschmack im Mund holte er die Spritze hervor, schrieb mit einem Marker Lisbeths Namen darauf und ging in den Flur.
Joshua holte aus der Kommode ein Holzkästchen he rvor. Mit versteinerter Miene öffnete er es. Zwei Spritzen lagen darin. Auf jede war ein Name gekritzelt. Lisbeths war die Dritte.
„Ich hoffe, du findest, was du suchst, Kleines“, flüsterte er. „Ich werde dich nicht vergessen.“
Als Joshua spürte, wie sich eine Träne aus seinem Auge stahl, wischte er sie fort. Betrübt lief er zurück in die Küche und füllte das Granulat seines lebensnotwendigen Morgengetränks in seine Tasse. Der Kocher hatte sich mittlerweile selbst ausgeschaltet und das Wasser verwandelte das trockene Zeug in das wunderbare schwarze Gebräu, das Joshua auf irgendeine Art immer tröstete.
Der Toast hüpfte nach oben und er nahm ihn aus dem Toaster, verbrannte sich an dem heißen Metall des Ger ätes fast die Finger. Er sog zischend die Luft ein und ließ die Brotscheibe auf seinen Frühstücksteller fallen. Wirklich Appetit verspürte er nicht, aber er vermutete, dass ihm im Verlauf des Tages nicht viel Zeit zum Essen blieb, darum strich er Marmelade auf den Toast und aß, ohne sie wirklich zu genießen.
Sein Handy gab ein Blubb von sich und er schaute auf das Display des Smartphones. Eine SMS von Björn? Mit gerunzelter Stirn öffnete er die Nachricht: Hey Josh.
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