Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
ihr nun im Kopf wider, sodass sie ob ihrer Dummheit betreten die Augen schloss. Hätte sie nur ein wenig mehr auf seine ablehnende Haltung geachtet, dann hätte sie gestern Abend schon merken müssen, dass er sich überrumpelt fühlte.
War er vielleicht vorsätzlich früher abgereist, damit sie sich heute Morgen nicht begegneten?
Bei dem Gedanken wurde ihr regelrecht übel. Auf einmal war sie froh, dass sie sich verspätet hatte, denn so konnte sie sich immer noch einreden, dass er wohl schon zur Prim hier gewesen sei. Denn höchstwahrscheinlich würde sie ihn nie wiedersehen. Das Herz wurde ihr schwer bei diesem Gedanken, zumal sie sich auch eingestehen musste, dass sie sich seine überstürzte Flucht selbst zuzuschreiben hatte. Nun waren dem Schicksal die Hände gebunden – alles durch ihre eigene Schuld.
Sämtliche Sorgen ihres alltäglichen Daseins stellten sich in diesem Augenblick schlagartig wieder ein, sodass Sophie sich rücklings gegen das Holzgeländer lehnte, außerstande, sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. Als ihr zu allem Überfluss auch noch einfiel, wie sie Rustengo hatte abblitzen lassen, rieb sie sich verzweifelt die Schläfen, denn sie ahnte, dass sie deswegen noch einiges von Gaillard zu hören bekommen würde. Zumal er sie eigens hatte ausschlafen lassen, damit das Treffen mit ihrem Verehrer auch zustande kam.
Dafür drohte ihr nun womöglich zweifaches Ungemach, denn sie hatte nebenher mitbekommen, dass an diesem Abend ein Frachtkahn mit der Flut auslaufen sollte. Sie wusste aber, dass zu wenig Fasswein bereitstand für eine komplette Schiffsladung. Dabei war es eigentlich ihre Aufgabe, den Rebensaft zu bemessen, in Fässer abzufüllen und diese dann zu versiegeln. Zwar war Gaillard selbst schuld daran, dass Sophie heute ihr Tagwerk nicht verrichtete, doch diese Tatsache würde ihn wohl in seinem Zorn nur wenig bremsen. Und dass er gewaltig in Rage sein würde, davon war auszugehen.
Dann auch noch diese Geschichte mit ihrer Herkunft! Dazu verflucht, den Männern die Köpfe zu verdrehen – so etwas in der Art hatte Gaillard ihr vorgeworfen. Stimmte es tatsächlich, dass sie mit einem Makel behaftet war? War es etwa dieser Makel, der sie dazu gedrängt hatte, sich dem Ritter an den Hals zu werfen?
Sie hatte in dem Kuss die einzige Möglichkeit gesehen, ihn zu überzeugen. Bei der Leidenschaft ihrer Umarmung war ihr richtiggehend schwindelig geworden. Und als sie sich dann voneinander losreißen mussten, sah sie dem Ritter an den Augen an, dass es ihm nicht anders erging. Dennoch hielt Sophie sich beim besten Willen nicht für die machtvolle Verführerin, als die ihr Adoptivvater sie hinstellte. Bis auf ihren Ritter hatte sie doch bislang noch keinen Mann geküsst und auch keinerlei Lust dazu verspürt. Und das sollte der von Gaillard behauptete Hexenzauber sein?
Jetzt, da ihr Rittersmann offenbar unwiederbringlich fort war, blieb Sophie wohl nichts anderes übrig, als ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Eines stand jedenfalls fest: Falls sie es vorzog, hierzubleiben, würde Gaillard sie Rustengo, oder, so sie den abwies, einem anderen Bewerber zur Frau geben. Bei dieser Vorstellung verzogen sich ihre Lippen zu einem verkniffenen Strich.
Entweder meinen Ritter oder gar keinen Bräutigam!, beschloss Sophie. Sollte das Schicksal entschieden haben, ihn ihr als Strafe für ihre Dummheit wieder wegzunehmen, so würde sie sich diesem Urteil bereitwillig fügen, denn nur er allein war für sie bestimmt.
Das aber erschwerte ein Verbleiben in Bordeaux, denn da die Wahrheit ja nun auf dem Tisch lag, würde Gaillard sich nicht mehr allzu lange vertrösten lassen. Plötzlich fiel Sophie der Traum wieder ein, in dem ihr der Ritter auf jener sagenumwobenen Lichtung erschien. War das vielleicht ein Zeichen? Sollte sie ihm dort wiederbegegnen? Gab es diesen Ort nicht nur in ihrem Traum, sondern tatsächlich irgendwo?
3. KAPITEL
„Für einen solch herrlichen Morgen schaust du viel zu bedrückt drein“, erklang plötzlich eine vertraute Stimme. Sophie zuckte zusammen und sah auf. Neben ihr stand Gérard, der Steinmetz. Als ihre Blicke sich begegneten, lächelte er sie an, und Sophie fiel nichts Besseres ein, als sein Lächeln zögerlich zu erwidern.
„Was könnte denn eine schöne Frau an einem Tag wie diesem bedrücken?“, fragte er gut gelaunt und lehnte sich mit verschränkten Armen rücklings gegen das Geländer des Wehrgangs.
Sophie blickte hinab in das hektische Treiben und
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