Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
sah gerade noch, wie eine der schlimmsten Klatschbasen von ganz Bordeaux sich mit einem verstohlenen Feixen abwandte. Natürlich wusste sie, dass die Kunde von dieser Begegnung umgehend Gaillard zugetragen würde. Heute bleibt dir wahrhaftig nichts erspart!
„Ach, ich hing bloß so meinen Gedanken nach“, erwiderte sie schüchtern, während Gérard sie ansah, als würde er am liebsten den ganzen Tag auf ihre Antwort warten.
Damit wandte sie sich zum Gehen, doch der Steinmetz trollte sich keineswegs, sondern versperrte ihr vielmehr den Durchgang zur Treppe. Abermals blickte Sophie ihn an, und das Funkeln in seinen Augen zeigte ihr, dass er wohl ahnte, was in ihr vorging. Mit einem kaum unterdrückten Seufzen stützte sie sich wieder gegen das Geländer.
„Offenbar ist dein Werk hier bald vollbracht“, bemerkte sie, jedoch nicht aus Interesse, sondern aus purer Verlegenheit. Er nickte rasch zur Bestätigung und ließ den Blick über das Mauerwerk gleiten, als wolle er abschätzen, wie lang die Ausbesserungsarbeiten wohl noch dauern mochten.
„Aye, ehe die Winterstürme einsetzen, wird die Brüstung wiederhergestellt sein“, unterstrich er und musterte Sophie dabei fast erwartungsvoll. Sofort wandte sie den Blick ab und ließ ihn zu dem Punkt am Horizont schweifen, wo die Landstraße im Morgendunst verschwamm.
„Und wohin geht’s dann?“, fragte sie eher beiläufig und um ein unverfängliches Gesprächsthema bemüht, wusste sie doch, dass Handwerker sich viel auf Wanderschaft begaben.
„Das hängt von vielerlei Umständen ab“, bemerkte er. Erneut spürte Sophie, wie er sie eindringlich beobachtete.
„Vermutlich muss man die Arbeit nehmen, wie und wo sie gerade kommt“, meinte sie, worauf Gérard einen leisen Laut von sich gab, den man als Zustimmung deuten konnte.
„Allerdings“, bestätigte er bedächtig. „Ein guter Handwerker findet allerdings immer Anstellung.“ Etwas in seiner Stimme machte Sophie stutzig, doch er starrte nur stirnrunzelnd auf seine Hände. Unvermutet bedachte er Sophie dann mit einem solch bohrenden Blick, dass ihr entsetzt der Atem stockte.
„Ich wäre durchaus nicht abgeneigt, mich hier den Winter über als Stellmacher zu betätigen“, gestand er leise. „Für Stellmacher gibt es reichlich zu tun in dieser Stadt.“ Was er damit meinte, lag auf der Hand. Zögernd wich Sophie einen Schritt zurück und sah, wie der erwartungsvolle Schimmer in seinen Augen verflog.
„Ich möchte nicht, dass du dich falschen Hoffnungen hingibst“, sagte sie ruhig.
Er wandte den Blick abrupt ab, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. „Zumindest bist du ehrlich“, murmelte er.
Erschrocken, dass sie ihn so leichtfertig gekränkt hatte, legte Sophie ihm begütigend die Hand auf den Arm, worauf er sich räusperte und ihr erneut schnell einen Blick zuwarf. „Nicht, dass du glaubst, ich könne dich nicht leiden, Gérard, denn ich mag dich sehr“, fügte sie hinzu. „Es ist nur so, dass mein Herz bereits vergeben ist.“
Dieses Geständnis riss ihn jäh aus seiner Erstarrung, sodass er sich ihr schlagartig wieder zuwandte. Während sie einander schweigend betrachteten, fragte Sophie sich, ob er ihr wohl etwas ansehen konnte. Nicht von ungefähr hieß es ja, Maurern und Steinmetzen wohne etwas Geheimnisvolles inne, insbesondere wegen ihres Einblicks in die Zauberwelt der Zahlen. Daher hatte Sophie in diesem Augenblick das Gefühl, als schaue er bis auf den Grund ihrer Seele.
„Ich hoffe, dass du dich an mich erinnerst, sollte er dich schnöde enttäuschen“, sagte Gérard leise. Diesmal war es Sophie, die sich abwandte – aus Angst, er könne sie noch deutlicher durchschauen.
„Wo warst du denn schon überall? Und wo möchtest du gerne hin?“, fragte sie, darum bemüht, das Thema zu wechseln, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sich ihr Ritter möglicherweise tatsächlich als Reinfall erwies. Jedenfalls war er fort; wohin, das wusste sie nicht.
Gérard stieß ein verhaltenes Lachen aus. Aus den Augenwinkeln sah Sophie, wie er den Kopf schüttelte. „Das würde ein ganzes Leben dauern, dir zu erzählen, wo ich schon überall gewesen bin“, entgegnete er nicht ohne ein gewisses Maß an leisem Spott. „Und ein ganzes Leben hast du mir ja bereits versagt. Von welchen Gefilden soll ich dir denn berichten?“
Bei diesen Worten kam Sophie ein Gedanke, welcher in seiner schlichten Klarheit dermaßen schlüssig war, dass sie sich dem Steinmetz jäh wieder
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