Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
hatte. Offenbar war die gesamte Besatzung an Deck. Vorsichtig kletterte sie bis nach oben und genoss trotz des widrigen Wetters den Wind im Haar. Der Geruch von Salz und Tang stieg ihr in die Nase, und sie erfreute sich an den Schaumfetzen der Gischt auf ihrer Haut.
Welch ein gewaltiger Unterschied zu der engen Kabine! In vollen Zügen genoss sie die Nachtluft. Offensichtlich waren sie inzwischen auf hoher See, sah sie doch ringsum nichts als die finstere, stürmische Oberfläche des Meeres. Die Vorstellung, es doch so weit geschafft zu haben, entfachte in Sophie ein wahres Hochgefühl. Erstaunlich, dass so viel Wasser an einem einzigen Ort sein sollte! Wie weit die Fläche wohl reichte? Was mochte dort unten in dunklen Tiefen lauern? Schmeckte das Wasser wirklich salzig, so wie es einer ihrer Brüder einmal erzählt hatte?
Entzückt verfolgte sie das Spiel der Blitze, die so unvermittelt die windgepeitschten Wolken am Firmament erhellten, und ihr war, als habe das Abenteuer ihres Lebens erst richtig begonnen. Urplötzlich öffnete der Himmel die Schleusen; wahre Sturzfluten ergossen sich über das Schiff und über Sophies Haar. Binnen weniger Augenblicke war sie durchnässt bis auf die Haut, doch das kümmerte sie nicht. Ein Gewitter auf offener See – etwas so Magisches und Fabelhaftes erlebte man nicht alle Tage.
Das Schiff wippte und schlingerte wie ein in die Wellen geworfenes Spielzeug; erbittert zerrte der Sturm an dem aufs Äußerste geblähten Segel. Wie berauscht klammerte Sophie sich an die Takelage, ohne von den Besatzungsmitgliedern gesehen zu werden, die in dem losbrechenden Sturm das Schiff auf Kurs zu halten versuchten.
Einer der Männer brüllte heiser gegen das Heulen des Windes an, worauf die anderen aufwärtsblickten, sodass auch Sophie den Blick nach oben wandte. Entzückt sah sie für einen Moment die wildverwegene Silhouette der Küste, doch dann erhellte ein niederfahrender Blitz die Masse scharfkantiger Klippen, die sich davor erstreckten. Hastig versuchten die Seeleute noch, das Segel zu reffen, aber es war zu spät. Wind und Wellen hatten bereits beschlossen, das Boot aufs Riff zu jagen.
5. KAPITEL
„Riff auf Steuerbord!“
Hugues vernahm diesen Warnruf, als er gerade aus dem Laderaum hinaufkletterte. Nach kurzem Zögern sprang er wieder hinunter. Das Schlingern und Stampfen des Schiffes verriet ihm, dass es der Kontrolle der Mannschaft längst entrissen war. Nach zahlreichen Seefahrten begriff er nur zu gut, welches Schicksal ihnen angesichts der drohenden Klippen bevorstand.
Er tätschelte Argent die Nüstern und sah, wie Todesangst in den Augen des Hengstes aufstieg. Er wusste, dass er im Falle eines Schiffbruches kaum etwas für das Tier tun konnte. Die hölzerne Rampe, über die man die Pferde in den Laderaum geführt hatte, war irgendwo verstaut. Allein konnte Hugues sie ohnehin nicht bewegen, und er hätte zudem niemanden gefunden, der ihm mitten in einem Sturm bei einem solch hirnverbrannten Unterfangen geholfen hätte.
Von nun an war jeder auf sich allein gestellt.
Das galt auch für Argent. Den Tränen nahe löste Hugues dem Hengst die Zügel von der Öse, an der sie befestigt waren, und streifte ihm auch das Zaumzeug vom Kopf, damit das Tier sich im Notfall unbehindert bewegen konnte. Dies war die einzige Liebe, die er seinem treuen Gefährten nun noch tun konnte, da gab er sich keinen Illusionen hin.
Die Brust wurde ihm eng, als er mit klammen Fingern auch an den Zügeln von Lucs Zelter herumnestelte und bemerkte, wie das viel kleinere Tier sich angstvoll an Argent drängte. Mit Tränen in den Augen verflocht Hugues die Finger mit der Mähne seines Hengstes, ehe er sich dazu durchrang, das Schlachtross sich selbst zu überlassen.
Dann fiel ihm ein, dass er sich auch noch um Luc und Sophie kümmern musste. Doch dieser Gedanke machte ihm den Abschied von dem Tier, das schon so lange sein Kamerad war, auch nicht leichter.
„Lebe wohl, mein Freund“, murmelte er gepresst, und dass Argent ihm genau in diesem Moment liebkosend die weiche Schnauze gegen den Hals drückte, war gewiss kein Zufall. So stand Hugues noch geraume Zeit neben dem Pferd und wünschte sich, er könnte irgendetwas tun. Schließlich wandte er sich ab, trat entschlossen auf die Leiter zu und kletterte hinauf aufs Zwischendeck.
Vor seinem geistigen Auge sah er, wie das silbergraue Fohlen über die grünen Weiden von Pontesse tollte. So viele Lenze war das schon her, doch trotzdem fühlte er jetzt
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