Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
klammerte sich an dem Weinfass fest, während schon wieder eine Woge über sie hinwegdonnerte. Das Fass wippte und wurde auch kurz unter Wasser gedrückt, doch als es beinahe sofort wieder auftauchte und sie zwar verkrampft, aber lebendig über dem Holzgefäß hing, hätte sie um ein Haar einen triumphierenden Jubelruf ausgestoßen. Noch fester verdrehte sie ihre Hände mit der Kordel. Jetzt musste sie nur noch durchhalten, bis der Sturm sich ausgetobt hatte.
Aber was war mit Hugues und Luc?
Bei jedem Auftauchen versuchte sie, das Wrack auszumachen, doch es war zu finster, um etwas erkennen zu können. Einmal war ihr, als sehe sie in der Ferne einen Schattenriss mit einer Art Dorn, bei dem es sich durchaus um das gestrandete Schiff mit dem nackten Mast handeln könnte. Doch dieses Gebilde war viel weiter weg, als sie vorher gedacht hatte. Angestrengt spähte sie nochmals in die Richtung, wenngleich es wegen der Wellen nicht einfach war, sich zu orientieren. Sie sah aber nichts mehr von dem zerborstenen Segler.
Ohne sich von der Ahnung, sie habe Luc und Hugues womöglich verloren, entmutigen zu lassen, hielt Sophie sich an ihrer Kordelschlaufe fest. Bei jedem Auftauchen keuchte sie hustend, und allmählich merkte sie, wie ihre klammen Hände und Füße immer gefühlloser wurden.
Doch wenn sie jetzt aufgab, würde sie ihren Ritter nicht wiederfinden. Dieser Gedanke allein beflügelte ihre Entschlossenheit, auf jeden Fall durchzuhalten, bis der Sturm abgeflaut war.
Als Sophie zu sich kam, lag sie unter einer milchig-trüben Sonne an einem zerklüfteten Ufer. Sie stemmte sich hoch, und als sie sich mit der Hand durchs Haar fuhr, verzog sie schmerzhaft das Gesicht, so verfilzt und salzverkrustet war es. Zerschlagen richtete sie sich langsam auf und ließ angesichts der endlosen Wasserfläche fast alle Hoffnung fahren.
So weit das Auge reichte, erstreckte sich ein menschenleerer Strand. Über ihr kreisten unaufhörlich die Möwen mit ihrem schrillen Gekreisch; gleich einer glatten Glasscheibe dehnte sich das Meer bis hin zum Horizont. Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und zwang sich, noch angestrengter Ausschau zu halten. Erneut spähte sie, die Augen mit der Hand gegen die bleiche Sonne abgeschirmt, in die Ferne.
Nichts. Sie waren fort, allesamt. Hugues, Luc, die Seeleute – mit Mann und Maus auf See umgekommen.
Hugues war tot. Sie konnte es kaum fassen, dass er so schnell wieder aus ihrem Leben verschwunden sein sollte. Dabei war sie so fest davon überzeugt gewesen, dass ihrer beider Schicksal vorausbestimmt sei, dass alles nach einem höheren Plan verlaufen würde.
Nun empfand sie es als töricht, sich auf die Gutwilligkeit eines Schicksals verlassen zu haben, das doch sonst so launenhaft erschien. Hugues war tot; nie wieder würde sie jenen Anflug von Heiterkeit in seinem Blick sehen oder ihm dabei zusehen können, wie er sich geduldig um seinen seekranken Knappen kümmerte. Und nie wieder würde sie seine aufwallende Leidenschaft fühlen, wenn er sie küsste.
Plötzlich spürte sie Tränen auf ihren Wangen, und dass es ihre eigenen waren, fiel ihr erst nach einiger Zeit auf. Verärgert wischte sie sie mit dem Handrücken fort. Zeit und Gelegenheit, um ihren Ritter zu trauern, würden sich noch ergeben, doch nun war sie mutterseelenallein an einem verlassenen Strand – ohne Nahrung, ohne ein Dach über dem Kopf. Und überdies stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Es ging also auf Mittag zu.
Falls sie und Hugues aber tatsächlich füreinander bestimmt waren – hatte sie da vielleicht, indem sie den Schiffbruch überlebte, die Mächte des Schicksals überlistet?
Diese Überlegung regte Sophie auf eine Weise an, wie es zuvor noch kein Gedanke vermocht hatte. Sollte das Schicksal auch sie als Opfer fordern, so würde sie es ihm gewiss nicht leicht machen. Als Erstes löste sie die Kordel wieder vom Weinfass und schnürte sich ihre jämmerlich aussehenden Beinkleider fest. Durstig wie sie war, untersuchte sie kurz das Fass, musste aber zu ihrem Leidwesen feststellen, dass sie es mit bloßen Fingern allein nicht anstechen konnte. Nach einem kurzen Blick zum Himmel drehte sie der Sonne den Rücken zu und marschierte entschlossen in die Gegenrichtung.
Nordwärts, hin zu den aufrecht stehenden Steinen. Sollten die tatsächlich am Ufer des Meeres stehen, musste sie ja über kurz oder lang darauf stoßen.
Weit draußen zu ihrer Linken senkte sich schon die Sonne, als Sophie geradewegs vor sich am
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