Ruf der Sehnsucht
sei sie entlassen, aber sie hütete sich zu gehen, bevor er ihr ausdrücklich die Erlaubnis dazu erteilt hätte.
»Douglas und ich werden heiraten, Vater.«
Ihre ruhige Feststellung brachte ihr einen scharfen Blick seitens des Sekretärs ein, der so gut wie immer bei ihren Begegnungen mit ihrem Vater zugegen war. Robert schüttelte fast unmerklich den Kopf, doch Jeanne, die gewohnt war, ihren Willen zu bekommen, lächelte nur.
Ihr Vater, dessen Augen vom gleichen Grau waren wie die ihren, musterte sie ungerührt.
»Wir werden heiraten.« Sie trat noch einen Schritt vor. »Ich liebe ihn, Vater. Douglas entstammt einer Familie, die mindestens ebenso vornehm ist wie die Familie du Marchand.« Damit musste sein bedeutendster Einwand entkräftet sein. Oder?
»Du hast Schande über den Namen du Marchand gebracht«, wiederholte der Graf.
Sicher, sie hatte zahllose Regeln gebrochen, um sich in den letzten drei Monaten nahezu täglich mit Douglas treffen zu können. Sie hatte ihre Anstandsdame angelogen, Verabredungen mit Freundinnen erfunden, die sich zu der Zeit gar nicht in Paris aufhielten. Sie hatte die Wahrheit verdreht, bis sie wie ein Zopf aussah. Aber, hatte sie sich gesagt, eine Lüge für einen guten Zweck war keine Sünde. Und sobald sie verheiratet wären, gäbe es keine Lügen mehr – und keine Schande.
»Wir sind sicher nicht das erste Paar, das seine Hochzeitsnacht vorweggenommen hat, Vater«, sagte sie lächelnd. »Und wenn wir schnell heiraten, wird niemand Verdacht schöpfen.«
Sie hatte das Gefühl, dass Gott der Allmächtige ihr verziehen hatte – im Gegensatz zu ihrem Beichtvater. Pater Haton hatte ihr als Strafe für ihre Unzucht mit Douglas das Höllenfeuer prophezeit, aber dieser Ort der Finsternis erschien ihr unendlich weit weg, vor allem, wenn Douglas ihr nahe war.
Jetzt musste sie nur noch ihren Vater überzeugen.
Er warf die Feder auf den Schreibtisch. Ein Tintenklecks bildete sich.
»Dein Liebhaber hat Frankreich verlassen, Jeanne. Er hatte genug von dir.«
Der Schock währte nur einen Augenblick.
»Das ist nicht wahr«, sagte sie, und diesmal erbleichte Robert, der neben dem Schreibtisch stand. Sie hätte seine stumme Warnung beherzigen sollen. Minuten vergingen, in denen ihr Vater ihr Gelegenheit gab, die Bedeutung seiner Worte zu begreifen.
»Das ist nicht wahr«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Douglas kann nicht abgereist sein. Nicht, ohne es mich wissen zu lassen.« Sie hatten sich für heute Nachmittag verabredet. Heute wollte sie ihm sagen, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug.
»O doch, er ist fort, Jeanne.« Die schmalen Lippen ihres Vaters verzogen sich zu einem Lächeln. Er öffnete ein Schubfach, nahm einen Brief heraus und reichte ihn ihr. Es war ihrer an Douglas, den ihre Zofe hätte übergeben sollen.
Jeanne war unwohl. Sie streckte die Hand aus. Ihre Finger waren eiskalt und steif, aber sie zwang sie, ihr zu gehorchen. Sie ergriff das Schreiben, atmete tief ein und schaute ihren Vater an.
»Es gab bestimmt einen guten Grund für seine Abreise«, sagte sie, »aber ich weiß, dass er zurückkommt.«
Ihr Vater erhob sich und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Hochgewachsen und breitschultrig war er eine imposante Erscheinung, aber heute Morgen erschien er Jeanne bedrohlich. Doch sie durfte sich nicht einschüchtern lassen – hier ging es um ihre Zukunft.
»Wenn Douglas zurückkehrt, werden wir heiraten, Vater. Es wird keine Schande über den Namen du Marchand kommen.«
Ihr Vater holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sein Siegelring traf ihre zarte Wange hart. Jeannes leiser Aufschrei war ebenso ein Ausdruck von Schmerz wie von Überraschung.
Jeanne legte eine Hand an die Wange, die andere, wie um das ungeborene Kind zu schützen, auf ihren Leib.
»Du Hure«, sagte ihr Vater leise. »Glaubst du im Ernst, ich würde dir gestatten, einen Engländer zu heiraten?«
»Er ist Schotte.« Die Korrektur brachte ihr eine weitere Ohrfeige ein.
Der Sekretär tat eifrig, nahm einige Papiere vom Schreibtisch und verließ eilends den Raum, schloss lautlos die Tür hinter sich.
Jeannes Unwohlsein wurde quälend. Natürlich wusste sie um die Xenophobie ihres Vaters und seine Abneigung gegen alles Nicht-Französische – obwohl er die Tochter eines englischen Herzogs geheiratet hatte –, aber sie hatte gehofft, den Comte erweichen zu können. Schließlich war sie sein einziges Kind, sein Augenstern, und selbst zur Hälfte englischer
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