Ruf Der Tiefe
wieder. Sie hatte es tatsächlich arrangiert! So wichtig nahmen sie seine und Lucys Flucht?
»Guten Morgen.« Ihre tiefe, ein wenig heisere Stimme. »Leon, es wäre mir weitaus lieber, wir könnten uns an Bord unterhalten. Ich bin sowieso gerade auf dem Weg zurück, du könntest um zehn Uhr in mein Büro auf der Thetys kommen.«
»Das geht leider nicht«, erwiderte Leon und war froh, dass der Sprachcomputer seine Stimme so fest und sicher klingen ließ. Und dass Lucy bei ihm war, eine warme Präsenz, die ihn einhüllte und begleitete. Es fühlte sich ein bisschen so an, als halte ein Mensch, den er liebte, seine Hand.
»Dann kannst du mir sicher auch jetzt erklären, warum du meine Anweisung missachtet hast, dass Lucy an Bord bleiben soll. Es gibt gute Gründe dafür, sie erst einmal im Becken zu behalten.«
Leon spürte, wie sein Zorn zurückkehrte, stärker denn je. »Mrs Rogers, was sind es für Entnahmen, die Ihre Leute an Lucy durchgeführt haben? Wofür genau ist die ›Prozedur‹ gut?«
»Leon, du weißt, dass Lucy kein Tier ist, wie es in der Natur vorkommt. Sie ist ein Geschöpf, das wir geschaffen haben, und es ist unser gutes Recht, diesem Geschöpf für unsere Forschung Zellen zu entnehmen. Und nicht nur das, Leon. Die ARAC besitzt Lucy. Sie gehört uns. Deshalb wirst du sie jetzt unverzüglich zurückbringen. Sonst betrachten wir das, was du gerade tust, als Diebstahl, erstatten Anzeige und schalten unsere Abteilung für Konzernsicherheit ein.«
»Kein Mensch kann ein intelligentes Lebewesen besitzen!«, sagte Leon und dann schaltete er die Ultraschall-Verbindung ab.
Er war sicher, dass sie an Bord der Thetys schon dabei waren, eins der Tauchboote klarzumachen, um ihm zu folgen.
Die Jagd war eröffnet.
Sie konnte unmöglich abfliegen, bevor sie wusste, was mit Leon los war.
Tausend Pläne hatte Carima entwickelt, neunhundertneunundneunzig davon wieder verworfen. Einer war übrig. Carima begann, ihn in die Tat umzusetzen.
Beim morgendlichen Zähneputzen, als ihre Mutter mit Kofferpacken beschäftigt war, schmierte sich Carima Nachtcreme gemischt mit einem kleinen Klecks Zahnpasta ins Gesicht. Nicht zu viel, nur dass sie ein kleines bisschen bleich und ungesund aussah.
Beim Kofferpacken bewegte sich Carima in Zeitlupe. Die Blumenkette, die sie bei der Ankunft vom Hotel bekommen hatten – ein echter hawaiianischer Lei aus gelben Blüten –, war schon ein wenig verwelkt. Doch Carima hängte ihn sich trotzdem um, als Glücksbringer und weil er so schön duftete.
»Die muss man eigentlich in den Kühlschrank tun«, sagte ihre Mutter, klappte ihren Koffer zu und ließ ihren eigenen violetten Lei in den Mülleimer fallen. »So, jetzt nichts wie ab zum Frühstück!«
»Eigentlich habe ich keinen Hunger, mein Magen fühlt sich nicht so gut an«, log Carima.
Ein kurzer, durchdringender Blick traf sie. »Hast du gestern Abend etwa welche von den Muscheln gegessen? Muscheln sind immer ein Risiko, das weißt du doch.« Ihre Mutter begann eine Kurzbelehrung darüber, dass man am Wochenanfang im Restaurant nie Meeresfrüchte bestellen sollte, weil die unmöglich frisch sein könnten. Doch Carima schüttelte den Kopf. »Nee, ich hab keine Muscheln gegessen. Und auch keine von den Scampis.«
»Na dann.« Schon hatte ihre Mutter das Interesse wieder verloren und sie gingen zusammen ins Hauptrestaurant. Ihre Mutter drapierte sich eine Käsescheibe mit dem per Laser aufgedruckten Good morning Mrs. Willberg! aufs Brot und trank den extra nach ihrem Bedarf zusammengestellten Vitamindrink.
Wie üblich holte sich Carima eine Schale Joghurt vom Büfett und hinkte damit an den Tisch zurück. Sie tauchte den Löffel hinein, verzog dann kurz das Gesicht und presste sich eine Hand auf den Bauch, als habe sie Schmerzen. Nur leider war die Vorstellung völlig verschwendet, weil ihre Mutter gerade mit nach innen gewandtem Blick eine Portion poke kostete – rohen Fisch, der mit Seetang, Sesam und Öl angemacht war. »Ich glaube, das werde ich in unserem Restaurant auf die Vorspeisenkarte setzen, wir haben immer noch einige japanische Touristen, die werden es lieben.«
Na gut. Dann musste sie härtere Geschütze auffahren. Carima schob den Joghurt von sich, presste noch einmal die Hände auf den Bauch und stöhnte leise.
Wieder nichts. Ausgerechnet in diesem Moment hatte sich ihre Mutter der Familie am Nachbartisch zugewandt, um sich von ihr zu verabschieden. Ihr fröhliches Geplauder hätte wahrscheinlich sogar
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