Ruf Der Tiefe
Aber wie? Jetzt schnell!
Leon spürte die Panik in Lucys Gedanken und auch, dass sie langsam müde wurde, dass sie das Tempo nicht mehr lange durchhalten würde. Und sie waren bisher kaum vierhundert Meter hinabgeschwommen, der Meeresboden lag noch ein ganzes Stück tiefer. Bis dorthin würden sie es nicht schaffen, wenn Lucy jetzt keine Pause bekam. Kraken waren nun mal keine Langstreckenschwimmer.
Er war jetzt völlig ruhig, seine Gedanken flossen kühl und klar. Es war nicht leicht, Echolot- und Sonargeräte auszutricksen, aber ein paar Möglichkeiten gab es. Manchmal entstanden Wirbel im Ozean, langsame Wellen in der Tiefe, wenn das Wasser in Bewegung geriet. In solchen Störungen und Anomalien ließ sich eine ganze U-Boot-Flotte verstecken. Das Dumme war, er hatte keine Ahnung, welches »Wetter« gerade unter Wasser herrschte, und das Sonar an seinem Handgelenk hatte zu wenig Reichweite, um ihm solche Störungen zu zeigen. Also kam nur eine zweite Möglichkeit infrage.
Wir müssen einen Schwarm Plankton finden , teilte er Lucy mit. An dem streut sich der Schall, darin können wir uns verstecken.
Jetzt war nur die Frage, ob sie einen Schwarm entdeckten – und vor allem, ob sie ihn rechtzeitig erreichten. Tagsüber hielten sich die winzigen Tiere in größerer Tiefe auf, erst in der Nacht stiegen sie nach oben. Also weiter nach unten, weiter, weiter. Das DivePad zeigte fast fünfhundert Meter Tiefe an und dass die Temperatur des Wassers abrupt von sechzehn auf sechs Grad gefallen war. Dieses Wasser kam direkt aus der Antarktis und es war reich an Nährstoffen. Wenn es Plankton in der Gegend gab, dann hier. Doch bislang meldete das Sonar an seinem Handgelenk nichts.
Lucy hatte sich über seine Schultern drapiert und ruhte sich aus, während Leon weiterschwamm. Dass sie fast vierzig Kilo wog, war hier in der Schwerelosigkeit des Wassers nicht von Bedeutung, doch es war nicht ganz einfach, ihre Masse durch die Gegend zu wuchten. Er war froh, als sie sich wieder von ihm löste.
Ein Geräusch drang durchs Wasser an Leons Ohren, ein Summen, sehr leise noch, ein unnatürlicher Ton hier unten, viel zu gleichmäßig. Leon wusste sofort, was es war, und spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinen Armen bildete. Elektromotoren. Dem Klang nach war das die SeaLink , ein etwas kleineres Boot als die Marlin , mit Platz für zwei Personen im Cockpit.
Leon blickte sich im schwarzen Wasser um, suchte nach den Lichtkegeln der Bordscheinwerfer. Ja, da waren sie, schräg über ihnen. Noch wirkten sie winzig wie die Taschenlampe eines Kindes, das sich nachts im Wald verlaufen hat, doch noch während er hinsah, wurden sie größer. Und das regelmäßige »Tschirp« des Sonars hallte klar und deutlich durchs Wasser. Kein Zweifel, der Pilot hatte sie längst entdeckt.
Leon war nicht sicher, was dieser Pilot vorhatte. Lauteten seine Anweisungen, Leon irgendwie hochzubringen, Lucy womöglich mit einem Netz einzufangen? Oder wollte die ARAC einfach nur wissen, wo die Abtrünnigen waren, sich mit dem Tauchboot an sie dranhängen und darauf warten, dass Leon einen Fehler machte? Ihm wurde mulmig zumute, als ihm einfiel, was Patrick ihm neulich erzählt hatte: Die SeaLink war mit Betäubungspfeilen ausgerüstet worden, um auch größere Tiefseetiere sammeln und hochbringen zu können. Wahrscheinlich hatten sie vor, ihn und Lucy damit außer Gefecht zu setzen.
Da vorne!, gellte es durch Leons Gedanken. Da vorne Wimmler, viele, viele, viele!
Das Sonar seines DivePads bestätigte es. Da war sie, ihre Chance! Als sie nahe genug herangekommen waren, schaltete Leon seine Lampe auf ein schwaches Rotlicht und knipste sie an. Ruderfußkrebse. Millionen von ihnen. Nein, Milliarden. Winzige Räuber, die sich über mikroskopisch kleine Pflanzen hermachten und ihrerseits von hungrigen Fischen verzehrt wurden.
Sanft ließ sich Leon in den Schwarm hineingleiten und schaltete die Lampe aus. Er spürte die Krebse nicht, doch wahrscheinlich wimmelten sie jetzt um ihn herum wie eine dichte Wolke Mücken um einen Menschen an Land. Nur dass der Schwarm hier unten nicht stach und wahrscheinlich mehrere Quadratkilometer groß war. Hier drin würden die Leute der Thetys ihn und Lucy hoffentlich ebenso wenig erkennen können wie einen Stein in einer Tasse Milch.
Jetzt schwimm, so schnell du kannst, hinter mir her! Leon wendete und jagte mit kräftigen Flossenschlägen entlang des Schwarms los, nach Süden. Weg von den Scheinwerfern, weg von seiner und
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