Ruf Der Tiefe
nicht, wieso sie diesen Jungen nicht aus dem Kopf bekam.
»Es sieht so aus, als hätten wir endlich einen Flug, Cari!« Ihre Mutter wirkte ausgesprochen zufrieden. »Morgen, um zwei Uhr mittags. Wir müssen zwar in Rom umsteigen, und ich habe eigentlich keine Lust, stattdessen in Italien festzusitzen, aber wahrscheinlich wird alles irgendwie klappen. Ich habe uns im Hotel schon abgemeldet.«
Carima starrte auf die Tastatur und die Buchstaben schienen vor ihren Augen zu verschwimmen, davonzudriften. Ja, abgemeldet, genau das war sie. Wahrscheinlich sah Leon keinen Sinn darin, sich mit einem Mädchen abzugeben, das sowieso in ein paar Tagen auf die andere Seite der Welt zurückkehren würde.
»Übrigens – ich habe meine Meinung geändert«, sagte Carima, setzte ein strahlendes Lächeln auf und wandte sich zu ihrer Mutter um. »Es ist okay, dass wir zurückfliegen.«
Nathalie Willberg blickte erstaunt drein, lächelte dann aber. »Prima. Ach ja, hättest du Lust, vor dem Abflug noch mal mit den Leuten von Benthos II zu sprechen? Ich habe vorhin mit dem Projektleiter telefoniert, um mich zu bedanken, und er meinte, wir könnten eine Verbindung bekommen.«
Fast hätte sich Carima verraten, um ein Haar wäre sie zusammengezuckt. Doch das Lächeln hielt, schirmte sie ab. »Na gut. Wär schon höflich, Tschüss zu sagen.«
Vielleicht brauchst du es gar nicht, das Lächeln. Leons Stimme in ihrem Kopf. Wieder einmal. Doch sie schaffte es nicht, auf ihren Schutzschild zu verzichten. Was wusste er schon von ihrem Leben? Es war doch so ganz anders als seines.
Sehr schnell, fast zu schnell, war es so weit. Ihre Mutter plauderte mit Kovaleinen und Patrick, dann reichte sie das Telefon zu ihr weiter. Carimas Handflächen waren schweißnass, als sie das Gerät nahm. »Hallo?«
»Hi, Carima«, sagte Julians Stimme und Carima zwang sich zu einem locker-fröhlichen Ton. »Na, wie läuft’s?«
»Ach, geht so. Hier unten geht’s drunter und drüber, weil im Meer immer noch so seltsame Sachen passieren. Deshalb sollen wir die Station aus Sicherheitsgründen erst mal verlassen.« Julian erzählte lang und breit von dem Forschungsschiff, auf dem sie die nächste Zeit verbringen sollten, und von Billies Freiwassertraining mit Shola an der Küste von Big Island. Es dauerte eine Weile, bis Carima den Mut fand, nach Leon zu fragen. Ein seltsames, langes Schweigen entstand, und Carima dachte schon, dass die Verbindung abgerissen war. Doch dann sagte Julian: »Äh, ich fürchte, nein, mit dem kannst du jetzt nicht sprechen.«
»Ist er gerade im Meer?«
Wieder Julians Stimme, leiser diesmal. »Nein. Er ist in Schwierigkeiten. Großen Schwierigkeiten, fürchte ich.«
»Wieso? Was ist denn passiert?«
Julians Stimme klang gepresst. »Aus irgendeinem Grund ist er völlig ausgetickt und die ARAC ist stinksauer auf ihn. Kann dir leider nicht viel mehr darüber sagen und ich muss auch jetzt Schluss machen … Schade, dass du nicht länger auf der Station warst. Komm gut nach Hause und pass auf dich auf, okay?«
»Julian!«
Nur noch das Freizeichen.
Ganz langsam ließ sich Carima auf die bunte Tagesdecke ihres Bettes zurücksinken. Ihr Kopf fühlte sich an, als habe ihn jemand mit Glassplittern gefüllt.
Leon. In Schwierigkeiten. Sie musste, nein, sie würde irgendetwas tun. Irgendwas!
Aber was?
Immer tiefer schwammen sie, fast senkrecht nach unten, in den Abgrund unter ihnen. Um sie herum wurde es dämmriger. Mit jedem Meter, den sie vorankamen, wurde Leon leichter ums Herz.
»Leon Redway, Thetys hier«, sagte eine Stimme, die er nicht kannte, durch die Ultraschall-Verbindung. »Ich wiederhole, hier ist die Thetys . Melde dich, Leon.«
Aha, anscheinend war ihnen schon aufgefallen, dass ihnen ein junger Taucher inklusive Krake abhandengekommen war. Leon war beunruhigt darüber, dass das so schnell gegangen war. Er und Lucy waren seit höchstens zehn Minuten im Wasser. Hatte Minh Mist gebaut? Oder hatte die junge Forscherin so schnell bemerkt, dass Lucy sich nicht in ihrer Wohnhöhle verkrochen hatte, sondern weg war? Wahrscheinlich an der feuchten Spur auf dem Boden.
»Redway hier«, meldete er sich kurz. »Was gibt’s?«
»Na, wie läuft das Freiwassertraining?«
Leon ging nicht auf den Plauderton ein. Sie ahnten sicher schon, dass dies kein gewöhnlicher Trainingstauchgang war. Nicht zuletzt deshalb, weil er die Sensoren, die seine Körperfunktionen an die Basis meldeten, wieder einmal abgeschaltet hatte. »Gut bisher. Keine
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