Ruf Der Tiefe
einen Schmerzensschrei übertönt.
Nur ein älteres Ehepaar am nächsten Tisch hatte das Stöhnen gehört. Sie warfen Carima einen missbilligenden Blick zu und zogen ihre Füße weg, als befürchteten sie, dass ihnen Carima jeden Moment daraufspucken könnte.
»Noch einen Tee?«, fragte die Bedienung Carima.
» Mahalo , danke, aber lieber nicht.« Carima rang sich ein jämmerliches Lächeln ab.
Es war Zeit für die nächste Eskalationsstufe. Leider war es vor Zeugen nicht möglich, sich den Finger in den Hals zu stecken, doch vielleicht ging es auch anders. Carima bemühte ihre Vorstellungskraft. Frittierte Augäpfel. Schimmelklümpchen in ihrem Joghurt. Würmer, die aus dem poke ihrer Mutter hervorkrochen … Sie musste würgen. Und das wirkte endlich. Der Kopf ihrer Mutter fuhr herum, das ältere Ehepaar am Nachbartisch stand hastig auf, und die drei Kinder der Familie guckten neugierig, um bloß nichts zu verpassen.
»Ma, mir ist total schlecht«, sagte Carima schwach.
Zehn Minuten später lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Bett im sechsten Stockwerk, eine vom Hotel geliehene Wärmflasche auf dem Bauch, und hörte zu, wie ihre Mutter hektisch telefonierte. Mit der Hotelrezeption. Mit Shahid. Mit Papa in München. Womöglich auch noch mit Gott, irgendwem musste sie ja Vorwürfe machen.
»Vielleicht wird es ja noch besser, ruh dich ein Stündchen aus, wir müssen jetzt noch nicht zum Flughafen«, sagte ihre Mutter mit beunruhigter Stimme und strich Carima über die Stirn.
Carima stöhnte noch ein bisschen und legte sich die Hände auf den Bauch. Der Duft des Leis , der noch immer um ihren Hals hing, stieg ihr in die Nase.
Leon ist in großen Schwierigkeiten … aus irgendeinem Grund ist er völlig ausgetickt …
Carima versuchte sich vorzustellen, wie dieser große, ruhige Junge durchdrehte, und schaffte es nicht.
Es war nie ganz leicht, sich mit Lucy über Orte und Schwimmrichtungen zu unterhalten. Himmelsrichtungen hielt sie für eine alberne Erfindung und nur mit Mühe hatte ihr Leon die menschlichen Namen für manche Orte nahebringen können. Seine Partnerin orientierte sich an Bodenmerkmalen, an Strömungen und am unverwechselbaren Geschmack des Wassers in bestimmten Gegenden. Deshalb war es auch schwer, ihr begreiflich zu machen, was er jetzt vorschlug. Leon versuchte es trotzdem. Wir haben nur einen einzigen Anhaltspunkt: Dieses Sonar-Echo aus Richtung des Lo’ihi. Südlich von Big Island. Das ist wahrscheinlich eine Gegend, in der das Wasser sehr bitter schmeckt, kennst du die?
Lo’ihi – der heiße Berg, ist er das?, gab Lucy neugierig zurück. Kawon erzählen davon.
Nicht oft erwähnte Lucy, dass sie sich mit anderen Kraken und Kalmaren austauschte, und Leon horchte jedes Mal neugierig auf, wenn sie es tat. Diesmal schickte er ihr eine wortlose Bestätigung, ja, es ging um den heißen Berg. Der Lo’ihi war ein junger Vulkan und würde einmal die neuste Hawaii-Insel sein – wenn er in etwa hunderttausend Jahren groß genug war, um die Wasseroberfläche zu durchstoßen. Im Moment lag die Spitze seines Kegels noch in tausend Meter Tiefe.
So weit runter? Großviel schwer ist das. Lucys Gedanken klangen skeptisch. Wenn nichts zu finden ist dort, was dann?
Leon seufzte. Er hasste Fragen, auf die er keine Antwort hatte. Dann fragst du dich einfach bei deinen Verwandten durch, bis wir einen besseren Hinweis haben!
Sorgen machte Leon, dass er das Stichwort Lo’ihi bei seinem ersten Gespräch mit Fabienne Rogers erwähnt hatte. Wenn sie sich noch daran erinnerte, dann konnte sie ihm in aller Ruhe dort eine Falle stellen.
Doch erst mal mussten sie es überhaupt dorthin schaffen. Es ergab keinen Sinn, sich in der Dunkelheit zu verstecken – wahrscheinlich hatte die Besatzung der Thetys ihn und Lucy noch immer auf ihren Bildschirmen, obwohl es in dieser Entfernung schon schwerer wurde, ein so kleines Echo wie das ihrer Körper im Blick zu behalten. Immer wieder hörte Leon die Schallimpulse des Fächer-Echolots, sie hallten wie ein tiefes »Bongggg« durchs Wasser.
Um die Besatzung irrezuführen, leitete Leon seine Partnerin erst einmal in Richtung Westen, so als wollten sie den Alenuihaha-Channel entlang zu den klaren ruhigen Gewässern der Kona-Küste von Big Island. Jetzt müssen wir irgendwie diesem verdammten Echolot entkommen, sonst sind wir so leicht zu erledigen wie ein Schwertfisch, der sich in einem Treibnetz verfangen hat.
Sofort strömte eine Antwort in seinen Kopf. Flüchten.
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