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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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mit ihr um die Wette gestrahlt. »Siehst du«, hatte sie gesagt und es nicht böse gemeint. »Du darfst nie die Hoffnung aufgeben.« Und sie hatte ihn glücklich geküsst.
    Jetzt streiften seine trüben Augen die Zimmerdecke, ein ockergelbes Überbleibsel aus den hippieesken 70ern, das längst einen neuen Anstrich benötigte. Die Tapete an der Wand hatte gleichermaßen ihre besten Tage hinter sich. Anders als die Wiesen, die Sonne und der Sommer, den sie gemeinsam genossen hatten, war der trostlose Anblick des Zimmers nicht dazu angetan, Hoffnung aufkeimen zu lassen; schon eher empfand er die Umgebung als… Paul vergaß den Gedanken.
    Hoffnung war ihm so fremd wie die Instrumente, die jetzt über das Leben seiner Verlobten wachten, blinkend, fiepend, summend – die auf einer Intensivstation allgegenwärtige Musik des Todes.
    Schläuche führten von den Maschinen zu Beatrice, in ihre Nase, ihre Arme und Venen, versorgten sie mit Nahrung, überwachten die Körperfunktionen, hielten sie dazu an, hier zu bleiben und nicht zu gehen, an welchen Ort auch immer.
    Vorhin war ihm der Gedanke gekommen, Bea sei vielleicht schon längst dorthin verschwunden, leise und unbemerkt. Vielleicht war die Bea hier im Bett nur noch eine leblose Hülle, längst zu einem Teil der kalten Technik geworden, ein schlichter Sinusrhythmus, ohne Wärme, ohne Liebe. War es dann nicht sogar besser, man schaltete die Apparate ab und ließ Bea endgültig gehen?
    »Ich weiß nicht…«, antwortete er der Schwester schließlich, weil ihm nichts Besseres einfiel. Sein Schädel war leer, ausgelaugt. Oder ausgelaufen mit den vielen Tränen, die er vergossen hatte.
    »Wunder geschehen immer wieder«, sagte Linda, und es klang so angenehm naiv, als glaube sie selbst daran. In der weißen Schürze, die ihre rosige, sommersprossige Haut betonte, kam sie ihm jetzt nicht mehr wie eine Krankenschwester vor, vielmehr wie eine Nonne, die einen Atheisten davon zu überzeugen versuchte, Gott, der Heiland, würde gleich höchstpersönlich an die Tür klopfen und hereinspazieren. Man müsste nur ganz fest daran glauben.
    »Wunder?«, fragte er, als habe er sich verhört. Seine Hand umschloss Beas Finger. Sie waren kalt, noch kälter als der Winter draußen im Hampstead Heath, wo die Badeteiche zu Eislaufflächen erstarrt waren.
    Linda setzte das Tablett am Bettrand ab. Am liebsten hätte Paul sie angeschrien, sie solle die Spritzen und Kanülen von Bea entfernen. Sah sie denn nicht, dass seine Freundin bereits genug litt? Schnell verschloss er die Augen vor dem Anblick und hörte die Schwester sagen: »Ihr Herz leidet, das ist völlig normal. Aber Sie müssen sich bemühen, dann werden Sie verstehen, dass Sie…«
    Es fiel ihm schwer, ihren weiteren Worten zu folgen. So sehr er sich bemühte, Paul wusste, es würde immer Dinge im Leben geben, die er nicht verstand. Deshalb schwieg er lieber und setzte sich mit jenen Sachen auseinander, die greifbar waren, sein Schmerz zum Beispiel. Daran konnte er sich klammern. Der Schmerz war das Einzige, was er noch hatte. Also war es völlig normal, dass er daran festhielt, oder nicht?
    Es gab ja nicht einmal etwas, worauf er wütend sein konnte. Ein Tumor, ein Schlaganfall oder ein Autounfall, das wäre nachvollziehbar gewesen – gleichwohl unbegreiflich, natürlich. Aber zumindest hätte er die Schuld auf etwas schieben können. Dieser blöde LKW-Fahrer! Warum musste er das Stoppschild übersehen?
    Doch offensichtlich gab es nichts, was das Schicksal begünstigt oder gar aufgehalten hätte. Kein: Hätten wir bloß weniger fettiges Grillfleisch gegessen! Oder: Hätten wir mehr Vitamine zu uns genommen! Oder: Hätte sie bloß nach rechts und nach links geschaut, bevor sie die Straße überquerte! Das hätte ihm wenigstens geholfen, zu verstehen. Doch wer half ihm jetzt? Etwa Schwester Linda?
    Pauls Blick klärte sich. Das Zimmer lag leer vor ihm. Ruhig war es nie, allgegenwärtig das Motorengeräusch und das Piepsen der Geräte. Die Pflegerin hatte den Raum bereits verlassen. Hatte sie noch etwas zu ihm gesagt? Er konnte sich nicht entsinnen. Im Grunde war es egal. Wie alles andere auch. Das Leben würde beschissen sein – ohne Beatrice.

Berlin
     
     
     
    »Und? Hast du die Bilder?«
    Philip wurde aus den Gedanken gerissen, mit denen er sich auf das bevorstehende Gespräch mit seinem Chef vorzubereiten suchte. Rüdiger Dehnen stand erwartungsvoll im Türrahmen. Er presste die Hände in die Hüfte und drückte den Rücken

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